Die Avantgarde, sie war einmal
Kunstforum. Die Retrospektive von Gerhard Rühm rückt die schwachen Werke der letzten 30 Jahre zu stark in den Fokus. Und manches wirkt gar zu verkrampft.
Ein Körperalphabet also. Es schaut ziemlich genau so aus, wie man sich das vorstellt: Die Buchstaben von A bis Z werden dargestellt mit Hilfe von gezeichneten Gliedmaßen, Bäuchen, Schultern und Köpfen. Das „R“ist ein Mensch, der die Hand in die Hüfte stemmt, das „X“wird aus vier Beinen gebildet, das „U“aus zweien, beim „M“geben sich zwei Figuren die Hand. Diese Buchstaben-Serie dominiert den großen Saal des Wiener Kunstforums, die Bilder sind schließlich jeweils 107 mal 70 Zentimeter groß. „das körperalphabet markiert eine rückbesinnung auf den ikonographischen ursprung der schrift unter neuen vorzeichen“, steht da. Die Erklärung stammt von Gerhard Rühm selbst.
Damit ist zusammengefasst, was in der aktuellen Ausstellung des Bank Austria Kunstforums schief läuft: Anstatt Gerhard Rühms OEuvre in einen Kontext zu stellen, lässt man den Künstler durchwegs sich selbst erklären. Und statt sich auf die 50er und 60er Jahre zu konzentrieren, die große Zeit des Gerhard Rühm, zeigt man zu vieles, das in den letzten 30 Jahren entstanden ist: Oft eher simple Serien wie eben das Körperalphabet, manchmal noch simplere Collagen – zerschnipselte Nacktfotos, neu zusammengefügt. Und hin und wieder ein Witz: Der „Notenhammer“ist hier ein riesiger Hammer, der auf eine kleine Viertelnote eindrischt. „Countrymusik“? Eine auf Notenpapier gezeichnete Pistole. Daneben Ausführungen über „das statische ausgangsfoto dynamisierende zeilenverschiebungen“und das „phänomen der traditionellen notenschrift als umsteigestation vom komponisten zum interpreten“.
Ready Mades! Poetische Acte!
Das wirkt einerseits ein bisschen läppisch, dann wieder zu verkrampft, und das ist schade: Es droht auch die früheren Arbeiten in ein schiefes Licht zu rücken. Dabei stellte das, was Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner und H. C. Artmann nach dem Krieg unternahmen, nichts weniger dar als eine künstlerische Revolution. Und was für eine. Und wie lustvoll! Sie veranstalteten „Literarische Cabarets“, irre Performances, im Zuge derer schon einmal ein Klavier zertrümmert wurde. Sie proklamierten den „poetischen act“, der alles zur Poesie erhob. Sie erstellten Gedichte nach dem Zufallsprinzip, eroberten den Dialekt für die Literatur zurück, arbeiteten mit Ready Mades, verfassten Texte gemeinsam. Nix mit Genie-Kult!
Nicht alles haben Rühm und Co ganz neu erfunden, manchmal eigneten sich die fünf, die bald unter dem Namen „Wiener Gruppe“firmierten, auch nur die Avantgarde an, Dadaismus und Surrealismus, die im Österreich der fünfziger Jahre, in dem der Nationalsozialismus kulturelle Ödnis hinterlassen hatte, noch so gut wie unbekannt waren. Anderes war radikale, so manchen verstörende Forschungsarbeit. Was ist ein Roman? Fragte Friedrich Achleitner und verfasste einen „Quadratroman“, dessen „Held“ein Quadrat ist, mit dem auf jeder Seite etwas anderes passiert. Was ist ein Gedicht? Fragten Artmann und Bayer und bastelten aus den Phrasen, die sie in einem alten Lehrbuch für böhmischen Sprache fanden, das wunderliche Gedicht „die gute Suppe“.
Oder noch elementarer: Was ist ein Wort? Wörter haben ja nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Gestalt und einen Klang. Ein Text kann ein Bild sein. Oder Musik. Diese Grenzüberschreitung, findet sich besonders schön ausgeführt in Gerhard Rühms Arbeiten im ersten Saal. Was passiert denn mit dem Wort „Sonne“, wenn es verschwindend klein auf einer großen schwarzen Fläche auftaucht? Was mit dem getippten Wörtchen „blau“neben einer roten Fläche – und das Ganze rechts auf dem Blatt? Wie erobern die Buchstaben „u“und „n“den Raum? Wie „s“und „t“? Wunderschön wie sich hier das Gedicht „Nachmittags“aus dem Jahr 1958 auf dem Papier entfaltet.
In den hintersten Saal hat Kuratorin Heike Eipeldauer eine Art Schulbank gestellt. Hier sollen sich die Besucher selbst erproben. Sie werden aufgefordert, ein Gedicht Gerhard Rühms auf Band zu sprechen. Oder eine „automatische“Zeichnung zu verfertigen: Einfach nur schauen, wohin die Hand einen führt. Oder man kann sich an eine alte Schreibmaschine setzen und die Buchstaben übers Papiere tanzen lassen.
Artmanns Proklamation
Oder man lässt es bleiben. Wie meinte doch Artmann in seiner von der Wiener Gruppe als programmatisch empfundenen Proklamation des poetischen Akts? „es gibt einen satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass man dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein wort geschrieben oder gesprochen zu haben“.
Der Ausstellung hätte etwas mehr von dieser provozierenden Leichtigkeit gut getan.