„Mit dem Gesetz des Dschungels ist es jetzt aus“
Interview. Europa muss sich davon lösen, Silicon Valley kopieren zu wollen, sagt Mariya Gabriel, die neue DigitalKommissarin im Gespräch mit der „Presse“. Von einer offensiven Teilnahme der Union am Cyberkrieg hält sie nichts.
Die Presse: Der französische Präsident Macron fordert eine gemeinsame europäische Politik für den digitalen Wandel. Sind wir in Europa heute politisch bereit, das zu tun, was man vor 50 Jahren wagte, um in der Luftfahrtindustrie Airbus zu schaffen? Mariya Gabriel: Wir können uns glücklich schätzen, dass der Präsident Frankreichs sich in dieser Frage so stark engagiert, an der die Kommission seit Jahren arbeitet. Unsere Digitalstrategie stammt aus dem Jahr 2015. Und wir liefern bereits Ergebnisse. Das Ende der Roaminggebühren zum Beispiel, die Portabilität digitaler Inhalte ab 2018, die Koordination des 700-Megahertz-Frequenzspektrums für neue drahtlose Breitbanddienste, die Initiative Wifi4EU (gratis WLAN). Die Kommission hat 24 Gesetzesvorschläge vorgelegt. Die liegen jetzt bei Rat und Parlament. Darum mein Appell: Wenn wir wollen, dass Europa digital an der Spitze bleibt, müssen sie den Rhythmus erhöhen, um all dies bis Ende 2018 zu beschließen. Europa ist digital aber nicht an der Weltspitze. Die USA, China . . . Wo sind wir nicht Spitze? Bei den digitalen Plattformen? Gut. Europa ist vielleicht erstmals nicht ganz vorn bei einer technologischen Revolution. Aber in anderen Bereichen behalten wir unsere Spitzenrolle – vor allem in jenen, die man die „unsichtbare“Seite des Internets nennen könnte. Also in der Sicherheitschipindustrie, der Nanorobotik und Ähnlichem. Ich bin überzeugt, dass unsere künftigen europäischen Champions schon da sind. Wir müssen nun mit Rechtssicherheit und langfristigen Perspektiven dafür sorgen, dass sie wachsen können. Und wir sollten aufhören, ein europäisches Google oder Netflix anzustreben.
Dafür braucht es aber wohl einen aktiveren Staat. Hinter dem Wunder von Silicon Valley stand ursprünglich auch das Geld des Pentagons. Gibt es den Willen in Europa, etwas Vergleichbares zu wagen? Man ist sich einig, dass die Frage der Digitalisierung zentral ist – aber es fehlen noch die konkreten Aktionen.
Egal, was wir in Europa machen: Die Infrastruktur des Internets ist amerikanisch, die gesamte Ingenieurskunst im Hintergrund. Die USA haben ein Monopol – und nichts Europäisches kommt da heran. Darum schlagen wir Regeln für das Internet vor. Wir haben nichts gegen die Plattformen, wir sind uns bewusst, was sie an Positivem bewirken. Aber mit dem Gesetz des Dschungels, dem Wilden Westen, ist es jetzt vorbei. Wer Dienstleistungen anbietet, muss sich an Regeln halten, die für alle gelten. Das ist für uns die Bedingung, um Innovation zu ermöglichen.
Damit sprechen Sie aber nur die Frage des Zusammenlebens im Internet an. Wieso hat die Kommission so eine Scheu, eine stärkere Rolle der Staaten zu befürworten? Wenn man europäische Digitalchampions möchte, wird es ohne diesen politischen Anschub kaum gehen. Ich denke, wir haben früher zu wenig investiert und sind von den USA, China, Japan abgehängt worden. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Für mich ist es nicht normal, dass Europa bei den Supercomputern nicht unter den ersten zehn ist. Darum stellt die Kommission Mittel bereit, damit bis 2023 einer der drei weltstärksten Supercomputer auf europäischem Boden steht.
Sie sind für die Aufwertung der EU-Agentur Enisa zur Abwehr von Cyberangriffen zuständig. Braucht die auch offensive Kapazitäten, um zurückschlagen zu können, wenn zum Beispiel Nordkorea die EU angreift? Manche Mitgliedstaaten mögen das vorschlagen. Mein Zugang ist aber, dass der Mehrwert der Europäischen Union darin besteht, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken.
Aber wenn jemand die Rechner der Kommission attackiert? Wir sind bisher verschont geblieben.
Es gab noch nie einen Cyberangriff auf die Kommission? Sagen wir es so: Wir haben vier bis fünf größere Zwischenfälle pro Jahr. Es gibt dafür die Einheit Cert-EU, das Notfallteam von Experten, das kümmert sich darum. Wir wollen, dass jeder Mitgliedstaat so eine Einheit hat. Das schreibt eine Richtlinie bereits vor.
Stehen Staaten hinter diesen Zwischenfällen? Es ist sehr schwer zu sagen, wer hinter solchen Angriffen steht. Was würde es uns helfen, darüber zu spekulieren? Ich kümmere mich lieber um unseren eigenen Gemüsegarten: Ich will ein Europa, das in Cyberfragen vorn ist und weltweit führt.