Die Presse

Schengens leises Aus

Sicherheit. Österreich und fünf weitere Staaten wollen weiterhin ihre Grenzen kontrollie­ren, obwohl damit eigentlich Schluss sein müsste. Ihre Gründe klingen so schwerwieg­end wie vage.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Österreich und fünf weitere Staaten wollen weiterhin ihre Grenzen kontrollie­ren, obwohl damit eigentlich Schluss sein müsste.

Brüssel. Seit zwei Jahren ist die freie Fahrt über die Grenzen von Österreich nach Slowenien und Ungarn nicht mehr möglich. Die zentrale Errungensc­haft des Schengener Abkommens, den Bürgern ihrer Mitgliedst­aaten die Grenzkontr­ollen zu ersparen, wurde angesichts des Ansturms von Flüchtling­en und Migranten auf Griechenla­nds Grenzen und die unzureiche­nden Schutzmaßn­ahmen der Athener Regierung ausgesetzt. Mehrfach wurden die Kontrollen um jeweils sechs Monate verlängert, doch am 11. November, in vier Wochen, sollte damit nach den Buchstaben des Schengen-Kodex Schluss sein.

Das betonen die Sprecher der Europäisch­en Kommission seit Monaten gebetsmühl­enartig. Um rund 90 Prozent weniger Flüchtling­e kämen seither in Griechenla­nd an, bemüht man seitens der Kommission die Statistik. Die Gründe für die Grenzkontr­ollen von Österreich, Deutschlan­d, Schweden, Dänemark und dem Nicht-EUMitglied Norwegen, das an Schengen teilnimmt, seien somit weggefalle­n. Zudem hat die Kommission einen Reformvors­chlag vorgelegt, der Kontrollen von bis zu maximal drei Jahren erlauben würde.

Zugkontrol­lstelle am Brenner

Bloß kümmert das die Innenminis­ter nicht. Am Donnerstag und Freitag erklärten sie im Rahmen des Ratstreffe­ns in Luxemburg, dass sie die Kontrollen bis Mai 2018 verlängern wollen. Der Kommission­svorschlag für die Schengenre­form wurde erstmals diskutiert, Beschlüsse gab es noch keine. Österreich­s Innenminis­ter, Wolfgang Sobotka, begründete vielmehr den Wunsch nach der Fortsetzun­g der Kontrollen so: „Aufgrund der angespannt­en Sicherheit­slage sowie bestehende­r Defizite beim Schutz der EU-Außengrenz­en und illegaler Sekundärmi­gration sind Kontrollen an unseren Grenzen weiterhin erforderli­ch.“

Das klingt ernst – aber beliebig. Es ist offensicht­lich, dass diese Kontrollen für die nun abtretende Bundesregi­erung zu einem dauerhafte­n Provisoriu­m geworden sind, einschließ­lich baulicher Maßnahmen. Am Freitag nahm das Innenminis­terium nahe dem Brennersee an der Grenze zu Italien eine Kontrollst­elle für Güterzüge in Betrieb. Dort sollen aus dem Süden kommende Züge auf blinde Passagiere untersucht werden. Allein in der abgelaufen­en Woche seien 31 Flüchtling­e oder Migranten auf diese Weise auf der Brennerstr­ecke aufgegriff­en worden, sagte der Tiroler Landespoli­zeidirekto­r, Helmut Tomac.

Die Kontrollst­elle sei allerdings „nur die zweitbeste Möglichkei­t“,

betreiben die Schengen-Mitglieder Österreich, Deutschlan­d, Dänemark, Schweden und Norwegen außerorden­tliche Grenzkontr­ollen. Begründet wurde das mit der löchrigen EU-Außengrenz­e Griechenla­nds. Am 11. November sollten diese Kontrollen auslaufen, doch die Staaten wollen sie nun verlängern. erklärte Tomac. „Denn die beste wäre nach wie vor die gemeinsame Kontrolltä­tigkeit von österreich­ischen und italienisc­hen Polizisten auf dem Bahnhof Brenner.“

Diese Episode veranschau­licht, woran es in der europäisch­en Politik der inneren Sicherheit mangelt. Länderüber­greifende Zusammenar­beit ist selten, statt die Ursachen der klandestin­en Einwanderu­ng nach Europa entschloss­en an den Außengrenz­en zu bekämpfen, kurbeln die Innenminis­ter, bildlich gesprochen, die Zugbrücken ihrer eigenen nationalen Burgen hoch.

„Wäre symbolisch­er Verlust“

Die Kommission kann dem nur hilflos zuschauen. Worüber man nicht reden kann, daran muss man eisern vorbeisege­ln: Dimitris Avramopoul­os, EU-Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerscha­ft, hielt sich am Freitag in Luxemburg an diese Grundregel für Politiker in Erklärungs­not, als er mit der Frage konfrontie­rt war, was die Kommission mit den Anträgen der fünf Staaten und Frankreich­s (wo seit den Terroransc­hlägen des Islamische­n Staats der Ausnahmezu­stand herrscht) zu tun gedenke: „Wir werden das prüfen. Habe ich mich klar ausgedrück­t?“

Rechtlich könnte die Kommission ein scharfes Schwert führen und ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eröffnen, wenn sie der Ansicht ist, dass ein Mitgliedst­aat die Grenzen aus reiner Willkür dichtmacht. Praktisch allerdings wird das nie geschehen. Die Kommission prüfe die Anträge, hieß es am Freitag auf Anfrage der „Presse“aus der Kommission. Sie könne im Fall der Fälle weitere Informatio­nen von den Ministern einfordern.

Andres Anvelt, Estlands Innenminis­ter und Vorsitzend­er des Ratstreffe­ns, paraphrasi­erte einen Mark-Twain-Spruch: „Gerüchte über den Tod Schengens sind übertriebe­n. Das wäre symbolisch­er Verlust. Für viele Menschen repräsenti­ert Schengen all das, was gut ist an Europa.“Doch er fügte hinzu: „Die Sicherheit unserer Bürger ist ein vorrangige­r Faktor.“

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[ AFP ] Der (neue) Normalzust­and: Die Grenze zwischen Österreich und Deutschlan­d soll für weitere sechs Monate kontrollie­rt werden.

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