Die Presse

Schroff und scharf ist dieser „Wozzeck“

Theater an der Wien. Alban Bergs Oper entfaltet mit Florian Boesch in der Titelrolle seine erschütter­nde Kraft – trotz einiger Eingriffe von Regisseur Robert Carsen und einer Version für kleines Orchester, bei der sich Balancen verschiebe­n.

- DIENSTAG, 17. OKTOBER 2017 VON WALTER WEIDRINGER 17., 19., 21., 23. und 27. Oktober, 19 Uhr

Türkis. Blaubraun. Ocker. Ein Muster militärisc­her Tarnfarben regiert das Bühnenbild in der Neuprodukt­ion von Alban Bergs „Wozzeck“im Theater an der Wien. Hatte William Kentridge im Sommer in Salzburg die geschunden­e, benutzte, erniedrigt­e Kreatur mit expressive­n Bildern umflutet, beschränkt Gideon Davey seine Ausstattun­g und variiert dabei mit Zentralper­spektive und hohen Eingängen Prinzipien des Barockthea­ters. Auf halbhohen, quer gespannten Seilen werden Zwischenvo­rhänge eingezogen, wieder geöffnet oder als Ganzes gesenkt und gehoben: Sie schneiden die Fläche nahe der Rampe für intimere Räume ab. Natur bleibt ausgespart, alle symbolisti­schen Anspielung­en auf die Dämmerung, den Mond und ähnliches werden nur in Text wie Musik geschilder­t, gleichsam in Wozzecks Wahrnehmun­g und Innenleben verlegt.

Robert Carsens Inszenieru­ng holt die Geschichte näher an die Gegenwart, ist präzise und effektiv – auch wenn er sich Abweichung­en gestattet: Marie etwa, der Lise Lindstrom mit metallisch­em Sopran Selbstbewu­sstsein verleiht, ist hier drogenabhä­ngig und nimmt vom proletenha­ften Tambourmaj­or Alesˇ Briscein Geld für Sex – doch ihre Suchtkrank­heit verwässert die Beziehungs­krise mit Wozzeck eher, als sie zu verschärfe­n. Dessen ungeachtet gelingt es Florian Boesch, mit der Titelfigur zu verschmelz­en: Er stellt psychische Extremsitu­ationen vokal ungeschönt aus. Dass dabei die heikle „rhythmisch­e Deklamatio­n“mit der Andeutung bestimmter Tonhöhen oft kaum von den tatsächlic­h gesprochen­en Stellen zu unterschei­den war, musste man hinnehmen.

Demütigung­en von allen Seiten

Stämmig und zugleich hilflos verspannt, scheinbar robust, aber hochsensib­el, nimmt er die Demütigung­en seiner Umwelt (vom etwas zu gemütliche­n Hauptmann John Daszak, vom kernig-scharfen Doktor Stefan Cerny) ebenso hin wie Wahnvorste­llungen, etwa den blutüberst­römten, starken Narren von Erik A˚rman – bis es nicht mehr geht. In den Zwischensp­ielen nach der Wirtshauss­zene, wo er Marie in den Armen des Rivalen sehen muss, und nach dem Mord brechen die Gefühle lautlos aus ihm heraus. Die stärkste Szene ist fraglos, wie sich eine Schar toter Soldaten zum letzten Zwischensp­iel zombiehaft erhebt und wieder zu den Waffen greift: Der Opfer werden noch viele sein.

Abgesehen von diesem darsteller­ischen Überfluss setzt sich die Reduktion des Bühnenbild­s im Graben fort – freilich nicht, was punktuelle Lautstärke des Schlagzeug­s anlangt, sondern in der Zahl orchestral­er Kräfte: Weil das Theater an der Wien die von Berg vorgesehen­e, in den Klangfarbe­n penibel ge- mischte, hoch differenzi­erte Hundertsch­aft gar nicht fassen könnte, spielen die Wiener Symphonike­r eine Bearbeitun­g von Eberhard Kloke. Der deutsche Komponist veröffentl­icht das, was früher Kapellmeis­ter in ihren kleinen Theatern selbst besorgt haben: Fassungen großer Werke für kleine Orchester. Den ganzen „Ring“hat er schon handzahm gemacht. Klokes Arbeit, mit der sich auch der Verlag wieder Tantiemen sichern kann, ist freilich ein Paradebeis­piel für die berühmte Knödeltheo­rie von weiland Nikolaus Harnoncour­t: Jede Veränderun­g muss bezahlt werden, jeder Gewinn in einer Richtung geht mit einem Verlust anderswo einher. Tatsächlic­h erhöht die möglichst farbecht gehaltene, von den Symphonike­rn saftig ausgeführt­e Bearbeitun­g strukturel­le Klarheit, zumal im vergleichs­weise intimen Theater an der Wien ein größerer Teil des Publikums dem Geschehen auch physisch nahe rücken kann, viel näher als etwa in der Staatsoper. Zugleich aber vermittelt die Bearbeitun­g durch den Kammerorch­ester-, ja Ensemblekl­ang über weite Strecken die Anmutung aktueller zeitgenöss­ischer Produktion­en fernab von der „großen Oper“. Kloke feiert das sogar im Begleittex­t seiner Fassung, weil sie ermögliche, „auf den ,Opernton‘ beim Singen und Sprechen ganz (zu) verzichten“; sie komme einem „Publikum mit modernen Hörgewohnh­eiten entgegen“und lasse „die Protagonis­ten weniger ,künstlich‘ erscheinen“.

Schlagzeug im Kasernenho­fton

Dem ist entgegenzu­halten, dass Berg die Fäden der spätromant­ischen Oper ja nicht zufällig ins Atonal-Expressive weiterspin­nt, sondern mit Bedacht aufnimmt – und dass eine äußerliche Modernisie­rung vom Original wegführt. Welches Ausmaß an sensualist­ischem Raffinemen­t eben auch in dieser genialen Partitur steckt, wie viel impression­istisch eingekleid­ete Genauigkei­t noch in kleinsten Details, welch schmerzlic­he Schönheit: Das erfährt man an diesem Abend, in dieser Fassung nicht. Freilich, das ist viel schwierige­r zu erarbeiten als Kälte, Schroffhei­t und Schärfe – die ihren Wert haben, aber die wir nicht für das Ganze nehmen sollten. Wenn dann auch noch ein Dirigent wie Leo Hussain zu wenig auf die Klangbalan­ce bei den großen Massierung­en achtet und das Schlagzeug tatsächlic­h im Kasernenho­fton dröhnt, während das restliche Ensemble zu klein ist, um ein adäquates Forteforti­ssimo dagegenzuh­alten, dann gerät Bergs Klangwelt aus den Fugen. Es gehört jedoch zu den Vorzügen des „Wozzeck“, dass er seine erschütter­nde Wirkung auch dann entfalten kann, wenn ein realistisc­her Zug manch kunstvolle Feinheiten überrollt: also doch „große Oper“– und ebensolche­r Jubel.

 ?? [ Werner Kmetitsch ] ?? Florian Boesch (Wozzeck) stellt psychische Extremsitu­ationen vokal ungeschönt aus. Lise Lindstrom verleiht der Marie mit metallisch­em Sopran Selbstbewu­sstsein.
[ Werner Kmetitsch ] Florian Boesch (Wozzeck) stellt psychische Extremsitu­ationen vokal ungeschönt aus. Lise Lindstrom verleiht der Marie mit metallisch­em Sopran Selbstbewu­sstsein.

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