Mitten im Krieg: Ein gespenstisches „Capriccio“
Operngeschichte. Vor 75 Jahren kam die letzte Oper von Richard Strauss zur Uraufführung – entsprang sie totaler Realitätsverweigerung? Außerhalb Deutschlands spielte man derweil allenthalben die „Leningrader Symphonie“.
Am 28. Oktober 1942 hebt sich im Münchner Nationaltheater der Vorhang über der Uraufführung einer musiktheatralischen Kostbarkeit: „Capriccio“, Richard Strauss’ letzte Oper, in Luxusbesetzung. Clemens Krauss dirigiert, er hat Strauss auch beim Textdichten assistiert.
Die Szene ist in Frankreich. In der Nähe von Paris debattiert eine illustre Gesellschaft des Ancien Regime´ zweieinviertel Stunden lang über die Frage, ob in der Oper dem Wort oder dem Ton der Vorrang gebühren soll. Es grenzt ans Gespenstische. Draußen wütet der Zweite Weltkrieg. Drinnen werden Sonette rezitiert, schöngeistige Themen besprochen. Man tanzt zu Cembaloklängen.
Ist „Capriccio“schon unter ganz normalen Opernumständen eine Kaprize, mochte sich hier manch einer gefragt haben, wie weit die Realitätsverweigerung eines Komponisten gehen dürfe. Freilich, die Abkehr von antiken Tragödienstoffen und Fin-de-Si`eclePoesie war für Richard Strauss längst vorgezeichnet. Die theoretischen Diskussionen über Opernstoffe mit dem Dirigenten Krauss hatten schon 1933 anlässlich der Uraufführung von „Arabella“begonnen, der letzten Oper, die Strauss gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal erdacht hatte.
Im Jahr danach machte Stefan Zweig, Librettist der „schweigsamen Frau“, Strauss auf das Thema des theatralisch-dramaturgischen Konversationsstücks aufmerksam: Im August 1934 erwähnte er in einem Brief Giovanni Battista de Casti, den Librettisten von Salieris „Prima la musica, e poi le parole“– jenem Werk, das am selben Abend wie Mozarts „Schauspieldirektor“1786 in der Orangerie von Schloss Schönbrunn uraufgeführt worden war. Zweig beurteilte das „kleine Stück“zwar an sich skeptisch, sah in der szenischen Abhandlung dramaturgischer Fragen aber eine geeignete Vorlage: „Bezaubernd daran ist der Titel, den man für diese leichte Komödie jedenfalls übernehmen sollte, und manche Einzelheit.“Im Oktober 1934 sandte er bereits ein Szenarium nach.
Strauss wollte Zweig als Librettisten
Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten trieb Zweig in die Emigration. Strauss, der ein Zerwürfnis mit der NS-Diktatur riskierte, weil er Zweig als Librettisten halten wollte, musste mit dem Wiener Kulturhistoriker Joseph Gregor vorlieb nehmen, der die Texte zu „Daphne“, „Friedenstag“(nach einem Zweig-Entwurf ) und „Die Liebe der Danae“(nach einer Idee von Hofmannsthal) schrieb. Erst danach erinnerte sich Strauss wieder der Rokoko-Komödie – und ging, weil er Gregor für diesen filigranen Stoff für ungeeignet hielt, selbst ans Werk. Clemens Krauss war als Koautor bald zur Stelle – und verstand auch, was der Komponist vergeblich Gregor zu suggerieren versuchte: „Viele Lieder“, schrieb Strauss im Mai 1939, „verdanken ihre Entstehung dem Umstand, dass der Componist zu einem schönen melodischen Einfall und einer poetischen musikalischen Stimmung ein Gedicht sucht.“
Wenig später skizzierte er Krauss, worum es ihm ging: „Etwas ganz Ausgefallenes“sollte es werden, „eine dramaturgische Abhandlung, eine theatralische Fuge (auch der gute alte Verdi hat’s am Schluss des ,Falstaff‘ nicht lassen können) – denken Sie an Beethovens Quartettfuge, das sind so die Greisenunterhaltungen!“Am 17. Oktober 1939 legt Krauss die erste dramaturgische Skizze für das gemeinsame Stück vor. Den Titel wird man erst ganz zuletzt finden. Doch dass das Werk mit einem großen Monolog der Gräfin Madeleine schließen würde, die sich nicht zwischen ihren beiden Verehrern, einem Dichter und einem Musiker, entscheiden kann, steht von Anfang an fest.
Die Novität fügt sich anno 42 nahtlos in die gigantische Camouflage des deutschen Kulturbetriebs ein. Den versuchen die Machthaber, dem Krieg zum Trotz zwecks Demonstration der eigenen Stärke aufrechtzuerhalten. Die gleichgeschalteten Zeitungen haben den Auftrag, die eminente Qualität der künstlerischen Leistungen herauszustrei- chen. In Berlin bekommt man zu lesen: „Wer hätte sich gedacht, dass in diesem dritten Kriegswinter das Konzertleben sich noch derart weiter gesteigert hat, und zwar nicht bloß in der Zahl, sondern auch dem Besuche nach?“Dergleichen hätte „Berlin kaum in Friedenszeiten erlebt“. . . „Capriccio“ist kein Einzelfall. Schlagerkomponist Peter Kreuder komponiert eine „musikalische Komödie“nach Nestroys „Der Zerrissene“, die in Stockholm uraufgeführt und 1942 in Innsbruck nachgespielt wird.
Karl Böhm bringt die Oper nach Wien
Fast gleichzeitig mit „Capriccio“kommt in Frankfurt ein „Odysseus“von Hermann Reutter zur Uraufführung. Und der Münchner Oberbürgermeister stellt klar, welcher Stellenwert solchen „Kaprizen“zukommt: „Gleich wie der Soldat, solange er steht und die Waffe hält, den ihm zugemessenen Fußbreit Boden bis zum letzten Atemzug verteidigt und dadurch den Sieg heraufbeschwört, so hat jeder von uns (. . .) seinen Auftrag durchzuführen, bis der Sieg errungen ist.“
So kämpfen alle an ihren Fronten: Der junge Bariton Hans Hotter besingt eine Schellackplatte – das Torerolied auf der einen, der Bajazzo-Prolog auf der andern Seite; Dirigent Karl Böhm wechselt von der Semperoper Dresden an die Wiener Staatsoper – und bringt „Capriccio“dort eineinhalb Jahre nach der Münchner Uraufführung zur Wiener Premiere. Auch hier eine illustre Be- setzung: Die junge Maria Cebotari ist die gräfliche Muse, Anton Dermota und Erich Kunz sind ihre schwärmerischen Poeten.
Welchen Signalcharakter ein musikalisches Kunstwerk haben kann, erleben die Menschen auf der anderen Seite der „Front“. Die Deutschen belagern seit Monaten Leningrad. Und Schostakowitsch komponiert seine Siebente, als eine Art Durchhalteparole für die verzweifelte Bevölkerung dieser Stadt. Am 8. September 1941 vernehmen die Leningrader eine Radioansprache, in der der Komponist seine Arbeit daran mitteilt und sagt: „Warum kündige ich das an? Damit die Radiohörer, die meine Ansage gerade anhören, wissen, dass das Leben in unserer Stadt seinen gewohnten Gang geht.“Das fertige Werk wird am 5. März 1942 in Kuibyschew uraufgeführt. Kurz darauf wird es in Moskau gespielt, in London, in New York, wo sich die prominentesten Dirigenten um das Recht der amerikanischen Premiere balgen. Natürlich gewinnt Toscanini und fungiert als Botschafter der antinazistischen Sache.
Meinte Schostakowitsch Stalin?
Dann durchbricht ein russisches Flugzeug die Luftblockade und bringt die Partitur dieser „Leningrader Symphonie“in die Stadt, die ihr den Namen gab. Karl Eliasberg studiert das Werk mit den Musikern der Philharmonie ein. Und Schostakowitsch erklärt: „Ich wollte ein Werk über unsere Menschen schreiben, die in ihrem im Namen des Sieges geführten Kampf gegen den Feind zu Helden werden.“So steht es in der „Prawda“. Und doch: Wie immer bei diesem Komponisten gibt es Unter- und Zwischentöne, die vor der sowjetischen Propaganda geheim gehalten werden mussten. Solomon Wolkow hält in seinem Buch „Stalin und Schostakowitsch“von 2004 fest, dass der Komponist zunächst ganz andere Intentionen verfolgte. Die musikalisch geschilderte „Invasion“komme nicht von außen, sondern von innen – als „schrittweise Übernahme, während die Angst den Verstand lähmt“. Stalin sei gemeint, nicht Hitler, der Komponist hätte bereits vor der deutschen Invasion in Russland mit der Komposition begonnen und angeblich gemeint: „Schon vor dem Krieg gab es in Leningrad sicherlich kaum eine Familie ohne Verluste: Jeder hatte jemanden zu beweinen. Aber man musste leise weinen. Niemand durfte es merken. Jeder fürchtete jeden. Der Kummer erdrückte, erstickte uns. Ich musste ihn in Musik umsetzen.“
Derweilen fragte Richard Strauss nach der Vorrangstellung von Wort oder Ton in der Oper. Das scheint jenseits jeglicher politischen Konnotation. – Es gibt viele Spielarten, dem Teufel zu widersagen . . .