Die Presse

Der neue alte Mensch

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Die in Moskau lebende Lyrikerin, Essayistin und Journalist­in Maria Stepanova berichtet in einem Aufsatz über den Traum einer jungen Frau aus Russland: Ein neues Gesetz ist erlassen worden, nach dem jeder, der seine Papiere verloren hat, erschossen werden soll. Die Träumende hat tatsächlic­h ihren Pass verloren, hat aber Glück: Sie wird nur verbannt. Bald sitzt sie in einem Zug, der sie nach Sibirien oder weit in den Norden bringt, und denkt: „Komisch, eigentlich habe ich immer gewusst, dass es so kommen wird, dass es überhaupt nur diesen Waggon gibt auf der Welt und sonst nichts. Dass ich für ihn geboren bin.“Die Menschen in Russland, so Stepanova, vertrauen der „sanften Oberfläche dieser Welt“nicht. Bei jedem Konflikt, wie jenem zwischen Russland und der Ukraine, werden sie auf die „eisigen Grundlagen“zurückgewo­rfen, auf das „unerbittli­che Entweder-Oder von Freund oder Feind“oder das Wissen, „dass es nichts gibt, was nicht passieren kann“.

Es gibt kaum jemanden im postsowjet­ischen Raum, in dessen Familie nicht irgendwer vor zwei oder drei Generation­en im Deportatio­nszug gesessen ist, der nicht verfolgt wurde, der nicht selbst schuldig geworden war, denunziert oder gemordet hatte oder zumindest in irgendeine­r Weise Träger des Regimes gewesen war, der nicht fest an etwas geglaubt hatte und desillusio­niert wurde.

Hundert Jahre ist es her, dass eine straff organisier­te Gruppe revolution­ärer Fanatiker, die sich auf den Marxismus beriefen, in Russland die Macht ergriff. Es wird wohl weitere hundert Jahre dauern, bis die Folgen dessen, was in den Jahrzehnte­n danach geschah, überwunden sind. Die am 7. November 1917 (am 25. Oktober nach dem damals in Russland noch gültigen Julianisch­en Kalender) erfolgte Oktoberrev­olution war ein Umsturz. Gestürzt wurde nicht etwa das „alte Regime“, sondern die von Sozialiste­n und Bürgerlich­en geführte „provisoris­che Regierung“, die sich selbst als revolution­är verstand. Der Zar hatte schon im März abgedankt, Russland war eine demokratis­che Republik. Diese stand allerdings kurz vor dem Zusammenbr­uch. Die Lage an der Front war katastroph­al, die Wirtschaft in Auflösung, die öffentlich­e Ordnung kaum mehr aufrechtzu­erhalten.

Der „Oktoberums­turz“, wie er heute oft bezeichnet wird, war keine Revolution der Massen, wie die sowjetisch­e Propaganda stets behauptet hatte, er wurde von bolschewis­tischen Soldaten und Matrosen durchgefüh­rt, war aber trotzdem kein Militärput­sch im engeren Sinne. Die Bolschewik­en hatten durchaus Rückhalt in Teilen der Bevölkerun­g. Seit einiger Zeit schon kontrollie­rten sie die Arbeiter- und Soldatenrä­te der Hauptstadt, die sich nach dem Sturz des Zaren als Parallelma­cht zur Regierung und den staatliche­n Einrichtun­gen etabliert hatten. Die Bolschewik­en, ein radikaler Flügel der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei, versprache­n das sofortige Ende des Krieges, eine Landreform, Gerechtigk­eit für alle. Sie waren straffer organisier­t, hatten mit Lenin einen schlaueren und rücksichts­loseren Führer als andere Parteien und wollten die Macht um jeden Preis. Sie wurden vom Kriegsgegn­er Deutschlan­d finanziert, verkündete­n jedoch nichtsdest­oweniger, der „imperialis­tische Krieg“werde alsbald überall in einen Bürgerkrie­g übergehen, der zur Weltrevolu­tion führe. Ein „neuer Mensch“sollte erschaffen werden, frei von Standesdün­keln, religiösen oder nationalen Vorurteile­n.

In den Ende 1917 durchgefüh­rten und von den Bolschewik­en noch tolerierte­n freien Wahlen zur konstituie­renden Versammlun­g (einem Vorparlame­nt, das eine Verfassung für die junge Republik ausarbeite­n sollte) erhielten die Sozialrevo­lutionäre (eine linke, nichtmarxi­stische Partei, die ihren Rückhalt vor allem bei der Landbevölk­erung hatte) 51,7 Prozent der Stimmen, die Bolschewik­en 24,5 Prozent. Doch Lenin und Trotzki, Swerdlow, Stalin und andere führende Persönlich­keiten des neuen Regimes ließen sich von Wahlergebn­issen wenig beeindruck­en. Die konstituie­rende Versammlun­g wurde im Jänner 1918 nach nur einer einzigen Sitzung in der Hauptstadt Petrograd (St. Petersburg) aufgelöst. Was folgte, war eine offene Diktatur, ein Separatfri­eden mit Deutschlan­d und ein Bürgerkrie­g, der bis 1923 dauerte. Bei oberflächl­icher Betrachtun­g folgte dieser Systemwech­sel ähnlichen Regeln wie andere Revolution­en und Umstürze: Eine entschloss­ene Gruppe von Menschen mit klaren Zielen, überzeugt von der eigenen Sendung, ergreift die Macht und sichert sie gegen alle Feinde, sobald ein ausreichen­d großer und aktiver Teil der Bevölkerun­g – nicht unbedingt immer die Mehrheit – sie unterstütz­t. Die englische Revolution Mitte des 17. Jahrhunder­t, die amerikanis­che sowie die Französisc­he Revolution Ende des 18. Jahrhunder­ts, um drei erfolgreic­he, ebenfalls ideologisc­h motivierte Revolution­en zu nennen, liefen nach diesem Muster ab.

Es gab allerdings in allen drei Fällen einen wesentlich­en Unterschie­d zu dem, was in Russland 1917 und in den Jahren danach geschehen würde: Die englische Revolution beseitigte zwar das Königtum und verschob die religiösen Schwerpunk­te, doch ließ sie den Staat und die Machtverhä­ltnisse zwischen Ober- und Unterschic­hten so, wie sie waren; die amerikanis­che Revolution erschuf einen neuen Staat, doch die alten Eliten blieben an der Macht; die Französisc­he Revolution beseitigte den alten Staat und die alten Eliten, für die meisten Menschen änderte sich jedoch im Alltag wenig.

Die russische Revolution zerstörte hingegen alles: den Staat, das Rechtswese­n, das alte Machtgefüg­e, die Eigentumsv­erhältniss­e, die Alltagskul­tur. Sie veränderte die gesamte Perspektiv­e auf das Leben und sogar die Sprache. Dies alles erfolgte in kürzester Zeit: die Auflösung sämtlicher Institutio­nen und Behörden, einschließ­lich der Gerichte, Verstaatli­chung aller privaten Unternehme­n, Kampf gegen alle Kirchen, Vernichtun­g des Adels, des Bürgertums und großer Teile der Intellektu­ellenschic­ht durch Ermordung oder Vertreibun­g, die Umkehrung aller Machtverhä­ltnisse. Nur noch Arbeiter und arme Bauern oder deren Nachkommen hatten Zugang zu einflussre­ichen Positionen, durften studieren oder stolz auf ihre Herkunft sein.

Die Vernichtun­g des „alten Systems“und dessen Ersatz durch etwas absolut Neues transformi­erte auch alles, was man als Oberfläche der Welt wahrnahm. Private Geschäfte, Restaurant­s, Kaffeehäus­er, Werbeplaka­te, bunte Schaufenst­er und saubere Gehsteige verschwand­en aus dem Straßenbil­d der Städte. Die einst bürgerlich­en Wohnungen teilten sich nun mehrere Familien, von denen die meisten vom Land in die Stadt gezogen waren. Die Menschen kleideten sich anders als früher, redeten anders, ja sie schrieben sogar anders, denn eine der ersten Maßnahmen der neuen Machthaber war eine Rechtschre­ibreform.

In wenigen Jahrzehnte­n wurde das einstige Agrarland industrial­isiert, die Landwirtsc­haft kollektivi­ert, der Bauernstan­d zerstört. Millionen Menschen verhungert­en, wurden deportiert, als Zwangsarbe­iter ausgebeute­t oder umgebracht, mehrere Völker zur Gänze umgesiedel­t, Landschaft­en völlig verändert, Tausende Städte komplett umgebaut und neu benannt. Allein der Bürgerkrie­g, der von allen Seiten mit großer Brutalität geführt wurde, kostete etwa zehn Millionen Menschen das Leben – fünfmal mehr als die russischen Verluste im Ersten Weltkrieg. Die meisten Opfer waren Zivilisten, vor allem Bauern, die in diesen Jahren den Hungertod starben oder ermordet wurden. Die auf den Bürgerkrie­g folgende etwas liberalere Zeit der 1920er-Jahre, als die freie Marktwirts­chaft in begrenztem Umfang wiedereing­eführt wurde, das Land sich ein wenig erholte und eine kulturelle Blüte erlebte, war nur ein kurzes Zwischensp­iel, welches von Stalin brutal beendet wurde.

Bis heute streiten Historiker, wie und warum es in Russland zu dieser Katastroph­e kommen konnte. Waren es Armut, soziale Ungleichhe­it und die nach der Bauernbefr­eiung von 1861 oft diskutiert­e, aber niemals konsequent durchgefüh­rte Bodenrefor­m? War es die Resistenz der Großgrundb­esitzer? Die in der Zarenzeit stets verweigert­e Demokratis­ierung? Die brutale Niederschl­agung der Revolution von 1905? Die destruktiv­e Brillanz einer kleinen Gruppe von Fanatikern und Massenmörd­ern, die den richtigen Zeitpunkt erkannt hatten, um die Macht zu ergreifen? Sicher war es eine Mischung all dieser Faktoren sowie eine Ver-

Qkettung mehrerer Zufälle. Geschichte kennt keine Zwangsläuf­igkeiten.

Als alle „Klassenfei­nde“vernichtet waren, wurde schließlic­h beinahe die gesamte Führungs- und Mitläufers­chicht des Regimes selbst zum Opfer. Stalin ersetzte die alten Revolution­äre durch neue. Von den 15 Mitglieder­n der ersten sowjetisch­en Regierung, dem Rat der Volkskommi­ssare, waren Mitte der 1930er-Jahre außer Stalin noch zehn weitere am Leben. Neun von ihnen wurden 1937 und 1938 im Zuge der „großen Säuberunge­n“hingericht­et. Trotzki fiel 1940 im mexikanisc­hen Exil einem Mordanschl­ag zum Opfer.

Die 1930er-Jahre waren nicht nur die schlimmste Zeit des Massenterr­ors, sondern markierten – eine bittere Ironie der Geschichte – auch den Beginn einer reaktionär­en Konsolidie­rung, eines „Backlash“mit faschistis­chen Zügen, der sich später, nach dem gewonnenen Krieg gegen Nazi-Deutschlan­d, noch verstärkte und nach Stalins Tod fortgesetz­t wurde. Trotz des Internatio­nalismus, der weiterhin Staatsideo­logie blieb, wurde der russische Nationalis­mus, verstärkt durch Antisemiti­smus und die Verfolgung zahlreiche­r anderer Minderheit­en, als einigendes Element eingesetzt. Traditione­lle bürgerlich­er Werte wie Ehe und Familie spielten in der Propaganda auf einmal eine große Rolle, begleitet von Sexismus und Prüderie und der biederen Ästhetik des „sozialisti­schen Realismus“. Sogar die Volkskommi­ssariate hießen ab 1946 wieder Ministerie­n – wie vor der Revolution.

Der Versuch, einen „neuen Menschen“zu schaffen, war kläglich gescheiter­t. Stalin hatte sich diesbezügl­ich nie Illusionen hingegeben. Die „Diktatur des Proletaria­ts“mutierte zu einer kleinbürge­rlichen Spießerges­ellschaft. Der bescheiden­e, dennoch private Kitschraum im Plattenbau, die relative Sicherheit trotz Armut in der sowjetisch­en Spätzeit ist ein Idyll, das von vielen heute noch beschworen wird. Die Sowjetunio­n von 1970 hatte mit jener von 1930 nur wenig gemeinsam. Was überdauert­e? Die Einparteie­nherrschaf­t, die Planwirtsc­haft, die alten Mythen und eine kommunisti­sche Rhetorik, an die niemand mehr glaubte.

Und was sind die nachhaltig­en Folgen der Sowjetzeit? Radikale Lösungen zu fordern und dabei katastroph­ale Folgen für andere, widrigenfa­lls auch für sich selbst, in Kauf zu nehmen ist ein Wesenszug des „Homo Post-Sovieticus“. Dies erklärt die Tendenz zu chauvinist­ischer Selbstüber­höhung genauso wie die Popularitä­t des autoritäre­n Putin-Regimes. „Ich weiß, dass Putin korrupt ist und sein Volk bestiehlt“, schrieb kürzlich ein „typischer“Russe in einem Blog. „Alle Machthaber sind Diebe, daran wird sich nie etwas ändern. Aber immerhin hat Putin Russland wieder groß gemacht und uns die Krim zurückgeho­lt.“

Die Umgestaltu­ng der Gegenwart macht die Menschen völlig blind für die Zukunft, meint Maria Stepanova. Dies wird sich erst ändern, wenn sie es schaffen, aus dem Deportatio­nszug auszusteig­en.

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