Sucht nach zweitem Körper
Herausfordernd, eindringlich, überzeugend: Olga Flors Roman „Klartraum“beschreibt den Entwurf einer unbeschränkten Liebe, einer zu Bruch gegangenen Leidenschaft in einem furiosen Aufschrei.
Banaler geht es kaum: Da gehen zwei Menschen eine Affäre ein, zwei Menschen, die anderweitig gebunden sind, Kinder haben und dennoch nicht von dem lassen können, was man zu Theodor Fontanes Zeiten einen „Schritt vom Wege“genannt hätte. Das währt eine Weile, bis es schiefgeht und der Mann zu seinem alten, vertrauten Leben zurückkehrt, die Geliebte zurücklässt. So weit, so oft erzählt, so vorhersehbar in seinen Begleiterscheinungen und Folgen.
Dennoch: Die Schriftstellerin und Physikerin Olga Flor, 1968 in Wien geboren, kümmert sich in ihrem sechsten Roman herzlich wenig darum, was Kolleginnen und Kollegin vorher zu diesem Stoff beigetragen haben und wie beschwerlich es sein könnte, diesem neue Nuancen abzugewinnen. Sie lässt ihre Protagonistin – lapidar „P“genannt – in einem furiosen Aufschrei, in einer vor nichts Halt machenden Niederschrift all das durchlaufen, was eine „unausweichliche, unaussprechliche, grenzenlose Liebe“ausmachen soll. In Kapiteln, die immer wieder Überschriften wie „Verlust“, „Lust“, „Komik“oder „Glück“tragen, erzählt Olga Flor von einer aus Wien stammenden und in Berlin lebenden Frau, die verlassen wurde und diesen Schock nicht zu verkraften vermag.
Ihr Gegenüber ist ein Mann namens A, fünf Jahre älter, zupackend, energisch, beruflich erfolgreich. Mit ihm verbindet sie eine alle Dimensionen sprengende Liebesgeschichte, die mit seinem Rückzug endet. Seiner Gattin, C, und den Kindern zuliebe beschließt er, von A zu lassen, lässt sie mit all ihrem umfassenden Sehnsuchts- und Glücksträumen zurück.
„Klartraum“versucht, diese Grenzsituation in Worte zu fassen, vor allem aus Ps Perspektive. Erinnerungen an hingebungsvolle Nächte, an mühsam arrangierte Rendezvous begleiten Ps Wut- und Verzweiflungsausbrüche. Sie schreibt Abschiedsbriefe, wartet auf seine Nachrichten, will nicht glauben, dass die „große“Liebe ihres Lebens wie eine gewöhnliche Liebe endet, und mahnt sich zur Ruhe, meist vergebens.
Olga Flor ist keine sanfte Autorin, die von Gefühlen im Kuschelmodus schreibt und sich mit dem Gegebenen abfinden möchte. Zumindest präsentiert sie eine Heldin, die sich nur auf den ersten Blick fügt: „Die Handlungsübereinkunft war: den Kindern keinen Schmerz zufügen, die Familien nicht verlassen.“Das sagt sich leicht; einen „Scheidungsscherbenhaufen“vermeiden zu wollen, das klingt vernünftig, doch mit Verstand und Vernunft ist eine überwältigende Leidenschaft selten kompatibel. Und so wütet P im Rückblick, beschimpft den Entschwundenen, hofft auf seine Rückkehr, versucht, seine Psyche und deren Defekte nüchtern zu beschreiben – was manchmal gelingt, meistens jedoch vom Eifer des Lieben- und Haben-Wollens aufgesaugt wird.
Wer so in den Fokus einer Verlassenen gerät, darf nicht mit allzu viel Sympathie rechnen. Und so scheut sich P nicht, auf die stattliche Mängelliste ihres Geliebten hinzuweisen. Als „Schweigemönch“pflegt er in entscheidenden Momenten auf „Tauchstation“zu gehen und bringt P mit seiner „erratischen Kommunikationsfrequenz“zur Verzweiflung. Dennoch ist A kein Zerrbild eines Mannes, der sich eheliche Langeweile mit einem Seitensprung vertreibt und, ehe es kritisch werden könnte, die Notbremse zieht.
Nein, so wütend P im Rückblick auch sein mag, sie vergisst nie, was A ihr trotz allem zu geben vermochte: die Erfüllung der „platonischen Sucht nach einem anderen, einem zweiten Körper, als könnte der einem etwas zurückgeben, was man einmal gehabt haben muss vor dem Einsetzen der Erinnerung: den fehlenden Teil, die Vollständigkeit, Unversehrtheit“.
Olga Flors Roman „Klartraum“ist eine überzeugend ungezähmte, das Geschehene nicht akzeptieren wollende Rückschau, de- ren Sprachregister von Absatz zu Absatz wechseln. Wo gerade noch ein lyrischer Ton vorherrscht, folgen alsbald sexuell dominierte Szenen, bis die Schriftstellerin dann wieder eine ironisch distanzierte Sprache anschlägt: Da ist dann vom „klar definierten Ablaufdatum“für ältere Frauen die Rede, von „dysfunktionalen Beziehungen“oder einer mangelnden „emotionalen Performance“.
So fächert sich dieser Text von Kapitel zu Kapitel auf, entzieht sich jeder eindeutigen Zuordnung und spricht gegen Ende die „liebe Leserin“und den „lieben Leser“an, wenn in einem Intermezzo, das von der „hyperventilierenden Jetztzeit“wegführen soll, Ritterlehrlinge und Königstöchterlein ihren Auftritt haben.
Solche Exkurse, zu denen auch die unter der Überschrift „Möglichkeit“subsumierten Episoden aus dem Leben einer glücklichen Paketzustellerin gehören, befrachten den Text manchmal stark, ganz so, als misstraue die Autorin insgeheim der Wirkkraft der P-und-A-Geschichte. Dennoch ist „Klartraum“auch in diesen Teilen ein packender Text, der das Scheitern einer einmaligen Liebe nicht akzeptiert. Die Brandreden, die P führt, erinnern hin und wieder an die Prosa Ingeborg Bachmanns und haben nichts von der verhaltenen Melancholie, die so viele gegenwärtige literarische Liebesgeschichten grundiert.
Es geht hier ums Ganze, um die Regelund Gesetzlosigkeit jenseits aller Vernunftkategorien: „Was sie lernen muss: dass Liebe anarchisch ist. Die lässt sich nicht steuern, die kann man nicht geschickt auf ein geeignetes Zielobjekt zusteuern“. Das Anarchische ist „schließlich auch das Interessante daran, sonst könnte man gleich heimgehen“. Dass eine solche Haltung zum Leben und zur Liebe Schmerzen verursacht, ist dabei unvermeidlich. Ebenso wie die stilistische Konsequenz, dass sich vom Anarchischen nur brachial und ungestüm erzählen lässt.
Der Entwurf der unbeschränkten Liebe, den P in A wahrgenommen hat, wahrnehmen wollte, bringt es mit sich, dass die Sicht der Sehnsüchtigen eingeschränkt wird. Die blind machende Liebe lässt sich mit dem, was in der Welt passiert, was den Paarhorizont übersteigt, kaum in Einklang bringen. So kommt in „Klartraum“en passant die Sprache auf Flüchtlingsbewegungen, auf die fallende Stadt Aleppo oder auf die Erderwärmung, doch die leidende P hat dafür kein Auge: „Sie trauert, was also interessiert sie fremdes Leid, was interessieren sie Weltuntergänge?, sie denkt hier und jetzt nur an sich selbst und ihren Verlust. Dass Verlust Teil jedes Lebens ist, weiß sie zwar theoretisch, hat sie schon gehört, Grundsätzliches interessiert sie aber derzeit weniger.“
Von derartigen Aporien der Liebe spricht Olga Flors „Klartraum“– auf herausfordernde, eindringliche und überzeugende Weise. Ein Roman, der beweist, dass das Banale, das Schon-so-oft-Erzählte nur banal ist, wenn es banal behandelt wird.