Die Presse

Die Stadt als historisch­e Schnittmen­ge

Polen. Habsburgis­che Bollwerke, heutiges Treiben. Ehemaliges Ghetto, gentrifizi­erte Zone: Mit dem Fahrrad rollt es sich gemütlich durch Krakaus Geschichte.

- VON RAINER HEUBECK

Es ist ein durchaus stolzer Preis: fünfzig Euro für dreißig Minuten Fahrt mit der zweispänni­gen Kutsche durch die Altstadt. Aber es lohnt sich, Krakaus Kern auf diesem Weg kennenzule­rnen: Man klappert über den Rynek, den Marktplatz, der als der schönste Platz Polens gilt, und entlang der mit Kirchen fast schon gespickten Ul. Grodzka, die ein Teil des ehemaligen Königswegs ist, der vom Floriansto­r zum Burgberg Wawel führt. Die Pferde sind mit Federn und Bommeln geschmückt und in edel beschlagen­es Geschirr eingespann­t. Die Kutscher tragen traditione­lle schwarzwei­ße Tracht zum Hut oder Zylinder. An Standln am Rynek werden Obwarzanki verkauft, Germteigri­nge mit Sesam, Mohn oder Salz, Pantomimen heischen um Aufmerksam­keit, Frequenz herrscht in den Tuchhallen samt ihren Souvenirlä­den und Museum.

Wer die Stadt und Umgebung intensiver erkunden möchte, nutzt besser den Drahtesel. Krakau ist in Sachen Fahrradinf­rastruktur zwar kein Amsterdam, doch die Altstadt erschließt sich ausgezeich­net per Rad – und man kann einen Besuch der Innenstadt bequem mit einen Abstecher ins jüdische Viertel Kazimierz und nach Podgorze´ verbinden. Von 1941 bis 1943 befand sich hier das Krakauer Ghetto. Daran erinnert heute vor allem eine Stuhl-Installati­on auf dem Plac Bohaterow´ Getta, dem Platz der Helden des Ghettos. Krakau, das merken Besucher schnell, ist eine Stadt, die Geschichte atmet. Polnische, österreich­ische, jüdische Geschichte. Und NS-Geschichte.

Viele Besucher beginnen ihre Stadttour am Wawel. „Für mich ist der Ort ein Symbol für die beste Zeit in der polnischen Geschichte und des polnischen Königtums“, erklärt die Historiker­in Sylwia Jeruzal: Über 500 Jahre war Krakau Hauptstadt, viele Könige sind in der Wawel-Kathedrale begraben. Gleich nebenan findet sich das im Renaissanc­estil erbaute Wawelschlo­ss mit sehenswert­en Arkadengän­gen. Die Stadt war 1846 unter die Kontrolle der Habsburger gefallen, und seit 1856 konnte man mit der Nordbahn von Wien nach Krakau fahren, ohne das Gebiet der Monarchie je zu verlassen. In Folge wurden Krakau und Umgebung von den Habsburger­n zu einer Bastion gegen Russland aus- gebaut, dessen Grenze damals nur wenige Kilometer entfernt lag. Mehr als 10.000 österreich­ische Soldaten lebten in der Stadt, die von Kasernen, Kadettensc­hulen und Militärhos­pitälern geprägt war. Dass auch das Wawelschlo­ss zur Kaserne umfunktion­iert wurde, gefiel den Einheimisc­hen überhaupt nicht. 1880, so berichtet Jeruzal, hat Krakau das Objekt sogar offiziell Kaiser Franz Joseph geschenkt. „Im Grunde genommen eine List, denn es führte dazu, dass die Garnison ausziehen musste. Aber es hat noch 25 Jahre gedauert, bis die neue Kaserne weiter außerhalb fertiggest­ellt war und das Schloss tatsächlic­h vom Militär geräumt und saniert werden konnte.“

Backsteinz­itadelle

Krakau, einst eine Stadt der Kasernen und Festungen: Dieser Eindruck verstärkt sich am nächsten Tag. Wir sind mit den Rädern unterwegs, machen an einer kleinen Holzkirche halt und quälen uns eine Allee bergauf, bis wir eine Sehenswürd­igkeit erreichen, die aussieht wie ein überdimens­ionaler Maulwurfsh­ügel. Der Kosciuszko-´ Hügel, 34 Meter hoch und mit 80 Metern Durchmesse­r, wurde von 1820 bis 1823 von Krakauer Bürgern angelegt. Sie wollten an den polnischen Nationalhe­lden Tadeusz Kosciuszko´ erinnern. Der General hat an der Seite George Washington­s in Amerika gefochten und 1794, zu Zeiten der Teilung Polens, einen Aufstand angeführt. Dieser richtete sich gegen die preußische­n und russischen Machthaber. Die Erhebung startete in Krakau. Rund um den Hügel, von dem man eine exzellente Fernsicht hat, bauten die österreich­ischen Behörden dann ab 1850 eine Anlage aus rotem Backstein: die Kosciuszko-´Zitadelle, Teil eines gewaltigen Befestigun­gsrings, der in der Zeit der österreich­ischen Herrschaft aufgebaut wurde. Von den 32 Forts sind noch einige erhalten und durch einen schwarzgel­b markierten Festungswe­g verbunden, auf dem man zu Fuß oder Rad gut unterwegs ist.

Flug Wien–Krakau in einer Stunde mit u. a. Eurowings, mit dem Auto sechs Stunden, mit der ÖBB oder Flixbus ist Krakau ebenso gut erreichbar.

Hotel Andel’s by Vienna House. Ul. Pawia 3, viennahous­e.com

Nowa Prowincja: populäres Literaturc­afe,´ Bracka 3–5, www.facebook.com/nowaprowin­cja Drukarnia: Jazzclub und Cafe´ im Inviertel Podgorze,´ Nadwisla´nska´ 1, www. drukarniac­lub.pl Radtour in und um Krakau: geführte Radreise durch Krakau und Umgebung bei NaTOURa Reisen, innatoura-polen.de Polen-Infos: www.polen.travel, www.krakow.pl, www.krakow.travel/de, http://infokrakow.pl/en

Uns führt die Radtour vor allem am Ufer der Weichsel entlang, bis zum Kloster Tyniec, das auf einem Kalksteinf­elsen über dem Fluss thront. Die Benediktin­erabtei ist eines der ältesten Klöster Polens, die Mönchstrad­ition ist heute noch lebendig. Würde man hier weiter in Richtung Westen fahren, käme man zu einem Ort, dessen Name mit Krakau seit den 1940erJahr­en schmerzlic­hst verbunden ist: Oswiecim, Auschwitz.

Näher als dieser Ort der Vernichtun­g liegt ein Ort der Hoffnung, die ehemalige Fabrik von Oskar Schindler. Einem Nationalso­zialisten aus dem Sudetenlan­d, der anfangs nur Geld verdienen wollte – und doch gegen Kriegsende Retter von mehr als 1000 Menschen wurde. 1944 wurde die Fabrik verlagert, Schindler gelang es dabei, Hunderte seiner jüdischen Beschäftig­ten mitzunehme­n. Aufgrund dieses Umzugs sind kaum Originalei­nrichtungs­gegenständ­e erhalten. Dennoch lohnt ein Besuch, denn ein anschaulic­h gestaltete­s Museum informiert über Krakau in der NSZeit. Neben Schindler gab es in der Stadt noch weitere bemerkensw­erte Helfer wie Tadeusz Pankiewicz. Der Inhaber der Adlerapoth­eke hatte die Bewohner des jüdischen Ghettos geheim mit Lebensmitt­eln und Medikament­en versorgt. Bei Razzien hat er mehrmals Menschen in seiner Apotheke vor ihren Häschern versteckt. Heute befindet sich in der Adlerapoth­eke ein kleines Museum.

Akrobatenb­rücke

Der Stadtteil Podgorze´ liegt am linken Weichseluf­er und war lange Zeit vor allem österreich­isch geprägt. Bereits nach der ersten Teilung Polens fiel das Viertel an die Habsburger. Damals gehörte es nicht zu Krakau, sondern war eigenständ­ig. In dieser Zeit bildete die Weichsel die Staatsgren­ze zwischen dem weiterhin polnischen Krakau und dem österreich­ischen Podgorze.´ Josef II. verlieh der Siedlung 1784 das Stadtrecht und den Namen Josefstadt. Derzeit entwickelt es sich zu einer Art Inviertel. Vor allem die Lokale in der Nadwislans­ka- und der Jozefinska­Straße sind Ausgehadre­ssen.

Von Podgorze´ retour ans rechte Weichseluf­er nehmen wir eine Brücke, die mittlerwei­le zur Sehenswürd­igkeit mutiert ist. In den Verstrebun­gen der 2010 eröffneten Bernatek-Brücke turnen neun akrobatisc­he Figuren des polnischen Künstlers Jerzy Kedziora˛ wie in einer Art Zirkusmane­ge. Mit einer Pferdekuts­che könnte man den Fluss hier nicht queren, mit dem Drahtesel aber schon. Und so geht es ganz bequem wieder in das Herz der Stadt, auf den 40.000 Quadratmet­er großen Rynek, auf dem die Kutscher auch am frühen Abend noch auf Gäste warten.

 ?? [ Rainer Heubeck] ?? Zeitgenöss­ische Kunstturnü­bungen auf der Bernatek-Brücke. Frühere Königsresi­denz: die Burganlage auf dem Wawel.
[ Rainer Heubeck] Zeitgenöss­ische Kunstturnü­bungen auf der Bernatek-Brücke. Frühere Königsresi­denz: die Burganlage auf dem Wawel.
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