Die Mordtinte des Th. B.
Herwig Oberlerchners psychiatrische Ferndiagnose zu Thomas Bernhard.
Seinerzeit wollte Tilmann Moser, seines Zeichens Psychoanalytiker, in seiner fragwürdigen Studie„ Romane als Kranken geschichten“(1985) Peter Handkez um„ Bord erlinePatienten“stempeln. Nun versucht sich der Kärntner Psychiater Herwig Oberlerchner auf diesem Gebiet mit einer „Psychografie“über Thomas Bernhard, obwohl Fachleuten bekannt ist, dass Ferndiagnosen – etwa nach dem EthikHandbuch der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie oder dem österreichischen Ärzterecht – ohne das Einverständnis von und eingehende Gespräche mit der zu diagnostizierenden Person unethisch und unseriös sind.
Herwig Oberlerchner wollte offensichtlich mit seiner „klinischen“Lektüre eine integrierende Literatur betrachtung, die die Möglichkeiten derpsychoanalytischen Erhellung mit dem viel breiteren Instrumentarium der Rezeption von Literatur verbindet, veranschaulichen. Dazu hätte es aber unabdingbar, direkter Gespräche mit Thomas Bernhard bedurft. Aus dem Sekundär literaturverzeichnis gehen lediglich Interviews hervor, dieKrista Fleischmann und Andre´ Müller mit dem „Psychografierten“geführt haben, kein einziges jedoch von Oberlerchner mit Bernhard.
Der Autor behauptet apodiktisch, Bernhard habe vieles überlebt, nämlich Abtreibungsv ersuche, die De privat ion der ersten Lebensmonate, die schwarze Pädagogik inder Familie, nationalsozialistische und katholische Erziehungsanstalten, Bombenangriff e im Krieg, Einsamkeit, Armut, Selbstmord versuche und die Tuberkulose. Bei genauer Betrachtung eine Latte, die für mehrere Tode gereicht hätte, wie dem Leser augenscheinlich suggeriert werden soll.
Bernhard als Psychotiker
Die „Diagnose“lautet, Bernhard habe nicht unbeschadet überlebt. Seine Persönlichkeit sei irritiert und verformt worden, er habe zwischen tiefer Depression und psychosenahem Erleben gependelt. Er sei Ambivalenz konflikten verhaftet gewesen, die durch belastende Bin dungserfahrungen verursacht worden seien, wobei die Konflikte chronisch gewesen seien und alle Lebensbereiche durchdrungen hätten. Unverständlich ist, dass auch die Beziehung zum geliebten Großvater, Johannes Freumbichler, negativ konnotiert wird.
Thomas Bernhard posthum zum Fall für die Psychiatrie hoch zu stilisieren, ohne eine Diagnosemöglichkeit gehabt zu haben, halte ich für unstatthaft. Offensichtlich ist, dass der Schriftsteller viele Schwierigkeiten zu überwinden hatte, was ihm auch gelungen ist. Unzweifelhaft gehört seine Literatur zum Kanon des 20. Jahrhunderts, was ich mit literaturwissenschaftlicher Überzeugung konstatiere. Im Leben hat Bernhard einiges zum Bloßstellen, Klagen und Wüten gebracht, besonders seine Stücke sprechen eine beredte Sprache. Wahrscheinlich hätte ihn auch dieser Band zu einer Reaktion veranlasst, die wohl härter ausgefallen wäre als sein „Holzfällen“. Er schreibe mit „Mordtinte“, hat er einmal gemeint. Vielleicht hätte er sie auch in diesem Fall in seinen Füllfederhalter aufgezogen.
Es kann durchaus sein, dass diese Fern- und Spätdiagnose in Buchform richtig ist; ethisch und seriös wäre sie dann, wenn der psychiatrisch geschulte Autor wenigstens eine Anamnese hätte erheben können. So ist der Band spekulativ und insbesondere für die Bernhardund Literatur forschung nicht relevant.