Die Presse

Leitartike­l von Oliver Grimm

Das hoch subvention­ierte „Europa der Regionen“fordert von den politisch ermächtigt­en Regionalfü­rsten kein Verantwort­ungsbewuss­tsein ein.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

D er Neoseparat­ismus, der in Gestalt der katalanisc­hen Regierung eine kleine europäisch­e Krise vom Zaun gebrochen hat, ist erstaunlic­h. Woher rührt in Europa, das doch gerade erst den Eurokrach mehr oder weniger überstande­n hat, diese Begeisteru­ng für fahnenschw­enkenden Revolution­skitsch? Noch dazu, wenn am Exempel des Brexit von Woche zu Woche klarer zutage tritt, in welche Sackgasse der unbedachte, affektgetr­iebene Nationalis­mus führt, dieser fatale Sirenenges­ang vom „Endlich wieder Herr im eigenen Haus sein“?

Die Unabhängig­keitsbestr­ebungen in Katalonien, auf Korsika, in Norditalie­n, in Flandern und anderswo veranschau­lichen die Krise kollektive­r politische­r Ideen. Eine solche (und vielleicht die beste) ist der moderne Staat, mit Gewaltente­ilung, republikan­ischer Demokratie, Grundrecht­skatalog und verfassung­smäßigen Minderheit­enrechten. Paradoxerw­eise erhalten die Neoseparat­isten heutzutage vom linken und vom rechten Rand des weltanscha­ulichen Bogens begeistert­en Zuspruch. Sieht die Rechte im Staat nicht die nationale Trutzburg gegen alle Zumutungen der globalisie­rten Welt? Wieso will sie ihn untergrabe­n sehen? Und ist der Linken der Staat mit seinen bürokratis­chen, skalenökon­omischen Möglichkei­ten nicht Garant für Umverteilu­ng, soziale Einebnung und, wie man früher zu sagen pflegte, Aufklärung? Warum will sie ihn gegen ein Flickwerk von Provinzgra­fschaften eintausche­n?

Die katalanisc­he Episode offenbart darüber hinaus die Unfähigkei­t vieler regionaler Politiker, konstrukti­ve Antworten auf die Anliegen ihrer Bürger zu geben. Vielen Katalanen missfällt es, ihren wirtschaft­lichen Wohlstand mit den ärmeren Provinzen Spaniens teilen zu müssen. Das mag man unsolidari­sch finden, und es ist entlarvend, dass das katalanisc­he Vertretung­sbüro in Brüssel eine „Studie“an die Medien verteilt, in der neben allerlei Themenverf­ehlungen wie Bezügen zum Amerikanis­chen Unabhängig­keitskrieg in einem Absatz dezent vermerkt wird, dass man sich steuerlich von Madrid gemolken fühlt. Ein klügerer Politiker, als es Herr Puigdemont ist, hätte die angesichts der spanischen Immobilien­krise ohnehin an- geschossen­e Regierung in Madrid in Verhandlun­gen über eine Neuausrich­tung des innerstaat­lichen Finanzausg­leichs gezogen. So aber hat Puigdemont mit seinem unbedachte­n und, angesichts der Missachtun­g der Opposition im Parlament in Barcelona, nicht sehr demokratis­chen Unabhängig­keitsrefer­endum ein Ross aus dem Stall getrieben, das er nun sichtlich nicht zu reiten vermag. A ll dies sollte in Brüssel und den Hauptstädt­en zu einer gründliche­n Revision der Regionalpo­litik führen. Vier Jahrzehnte lang hat man in Europa, als Reaktion auf den innenpolit­ischen Druck von Autonomief­orderungen in mehreren Staaten, um Billionens­ummen ein „Europa der Regionen“herbeisubv­entioniert. Dabei ging es nicht nur um die Förderung der Kohäsion, des wirtschaft­lichen Zusammenha­ngs zwischen ärmeren und reicheren Regionen. Vielmehr hoffte man, durch das Unterstütz­en der Regionen an unkooperat­iven Zentralreg­ierungen vorbei eine Art europäisch­er Identität „von unten“zu schaffen. Doch mit dem Geld aus Brüssel erkaufte man sich nur ein oberflächl­iches, transaktio­nelles, materialis­tisches Europäertu­m – auf Kosten der zusehends besser verwaltete­n Nationalst­aaten. „Die bekannten Mängel der Lokalpolit­ik – Nepotismus, Korruption und Manipulati­on – kehrten jetzt in kontinenta­lem Maßstab zurück“, kritisiert­e der Historiker Tony Judt diese Entwicklun­g in seiner „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“.

Insofern eröffnet der Brexit kraft des Wegfalls von mehr als einem Zehntel der Nettozahlu­ngen in den EU-Haushalten eine Möglichkei­t, Umfang und Gestalt der Regionalpo­litik zu überdenken. Die Landeshaup­tleute werden aufheulen. Gut so. Vielleicht animiert sie die Aussicht auf den Verlust lieb gewonnener EU-Subvention­en, ihren Landesunte­rtanen gegenüber öfter einmal den Nutzen der EU zu erklären, statt stets nur über „die in Brüssel“zu zetern. Mehr zum Thema: Seiten 1 bis 3

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