Mit unserem Fairness-Barometer stimmt etwas nicht
Wenn Arme auf Kosten der Allgemeinheit leben, wird das als unfair empfunden. Wenn Reiche dasselbe tun, sind wir viel weniger sensibel.
Fairness ist wichtig. Und das Fairness-Barometer, das jeder von uns in sich trägt, ist ein sehr sensibles Instrument. Kaum etwas ist belastender, als das Gefühl, unfair behandelt zu werden: Es nagt, zersetzt die Freude an eigenen Erfolgen, und kann im Extremfall krank machen. Kein Wunder also, dass die Politik den Wählern und Wählerinnen mehr Fairness verspricht. Jenen, die sich unfairer Methoden bedienen, um ihren Anteil am gemeinsamen Kuchen auf Kosten aller anderen zu vergrößern, soll kräftig auf die Finger geklopft werden. Am Ende bleibt dann mehr für alle anständigen Bürger übrig, und alle fühlen sich besser.
So weit, so klar. Interessant ist erst die logische Anschlussfrage: Von wem reden wir eigentlich?
In Österreich sind wir mittlerweile auf die immergleiche Antwort konditioniert: Wir reden von Ausländern, von Armen, am liebsten von armen Ausländern. Von der Familie X, von der wir neulich in der Zeitung gelesen haben, die eine Menge Kinder hat, Mindestsicherung bezieht, Kindergeld, und Mietbeihilfe womöglich noch dazu. Vielleicht sind die Eltern arbeitslos – und entziehen sich damit einer Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit.
Sie genießen unsere gute Gesundheitsversorgung, unser kostenloses Bildungssystem, benützen unsere gemeinsame Infrastruktur. Das fühlt sich unfair an, für hart arbeitende Menschen, die jeden Monat ihre Abzüge am Gehaltszettel sehen: Ich zahle so viel in die Gemeinschaftskassa ein, und die so wenig! Das ist unfair!
Oder wir reden von der Frau Y, die zwar in Österreich hart arbeitet, aber die Familienbeihilfe für ihre Kinder zu ihnen nach Rumänien schickt. Auch das ist unfair – denn in Rumänien sind 120 Euro ja doppelt so viel wert! Frau Y kriegt für ihre Kinder zwar dasselbe Geld wie ich für meine. Aber weil sie Rumänin ist und sich in Rumänien mehr dafür kaufen kann, müsste sie erst deutlich weniger bekommen als ich, damit es sich auf meinem Barometer wieder fair anfühlt.
Wir sind streng mit armen Men- schen. Wir nehmen es ihnen moralisch übel, wenn sie sich nehmen, was ihnen rechtlich zusteht; und wenn sie sich gar noch mehr nehmen, als ihnen zusteht, können die Strafen gar nicht hart genug sein. Ließe sich ein Mindestsicherungsbezieher von einem Spezialisten im Detail beraten, wie er die Schlupflöcher in unserem Sozialsystem am besten ausnützen kann – wir empfänden das, zu Recht, als Betrug an der Allgemeinheit.
Dann aber lesen wir von den Panama Papers. Oder von den Paradise Papers. Von den vielen Milliarden, die Jahr für Jahr nicht in unsere Staatskassen eingezahlt werden, wo sie eigentlich hingehören, sondern stattdessen durch kompliziert verschachtelte Unternehmenskonstruktionen nach Cayman Islands, Bermuda oder Malta geschleust und dort gebunkert werden. Es ist sehr viel Geld, das der Allgemeinheit vorenthalten wird. Aber es scheint uns weniger zu schmerzen als die 120 €, die Frau Y zu ihren Kindern nach Rumänien bringt.
Auch jene, die von globalen Steueroptiminierungskonstruktionen profitieren, sind ganz konkrete Menschen. Sie leben, wie Familie X und Frau Y, unter uns (weil es sich in Österreich besser lebt als auf den Cayman Islands), genießen die Vorzüge unseres Sozialstaats, benützen unsere gemeinsam finanzierte Infrastruktur, freuen sich hier über Sicherheit und Lebensqualität. Sie nehmen sich das Maximum dessen, was ihnen zusteht, aus unserer Gemeinschaftskasse heraus (mit Hilfe guter Anwälte manchmal noch mehr). Gleichzeitig beschäftigen sie Heerscharen von Spezialisten, um so wenig wie möglich einzuzahlen, idealerweise gar nichts, und freuen sich, wenn sie wieder ein neues Schlupfloch dafür gefunden haben.
Würden wir an reiche Menschen dieselben strengen Maßstäbe anlegen wie an arme Menschen, müsste man auch solche Praktiken einen „Betrug an der Allgemeinheit“nennen. Aber seltsam: Da schlägt unser Fairness-Barometer oft gar nicht erst an.