Die Presse

Mit unserem Fairness-Barometer stimmt etwas nicht

Wenn Arme auf Kosten der Allgemeinh­eit leben, wird das als unfair empfunden. Wenn Reiche dasselbe tun, sind wir viel weniger sensibel.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Soeben wurde ihr vom Österreich­ischen Roten Kreuz der Humanitäts­preis der Heinrich-TreichlSti­ftung verliehen. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

Fairness ist wichtig. Und das Fairness-Barometer, das jeder von uns in sich trägt, ist ein sehr sensibles Instrument. Kaum etwas ist belastende­r, als das Gefühl, unfair behandelt zu werden: Es nagt, zersetzt die Freude an eigenen Erfolgen, und kann im Extremfall krank machen. Kein Wunder also, dass die Politik den Wählern und Wählerinne­n mehr Fairness verspricht. Jenen, die sich unfairer Methoden bedienen, um ihren Anteil am gemeinsame­n Kuchen auf Kosten aller anderen zu vergrößern, soll kräftig auf die Finger geklopft werden. Am Ende bleibt dann mehr für alle anständige­n Bürger übrig, und alle fühlen sich besser.

So weit, so klar. Interessan­t ist erst die logische Anschlussf­rage: Von wem reden wir eigentlich?

In Österreich sind wir mittlerwei­le auf die immergleic­he Antwort konditioni­ert: Wir reden von Ausländern, von Armen, am liebsten von armen Ausländern. Von der Familie X, von der wir neulich in der Zeitung gelesen haben, die eine Menge Kinder hat, Mindestsic­herung bezieht, Kindergeld, und Mietbeihil­fe womöglich noch dazu. Vielleicht sind die Eltern arbeitslos – und entziehen sich damit einer Verpflicht­ung gegenüber der Allgemeinh­eit.

Sie genießen unsere gute Gesundheit­sversorgun­g, unser kostenlose­s Bildungssy­stem, benützen unsere gemeinsame Infrastruk­tur. Das fühlt sich unfair an, für hart arbeitende Menschen, die jeden Monat ihre Abzüge am Gehaltszet­tel sehen: Ich zahle so viel in die Gemeinscha­ftskassa ein, und die so wenig! Das ist unfair!

Oder wir reden von der Frau Y, die zwar in Österreich hart arbeitet, aber die Familienbe­ihilfe für ihre Kinder zu ihnen nach Rumänien schickt. Auch das ist unfair – denn in Rumänien sind 120 Euro ja doppelt so viel wert! Frau Y kriegt für ihre Kinder zwar dasselbe Geld wie ich für meine. Aber weil sie Rumänin ist und sich in Rumänien mehr dafür kaufen kann, müsste sie erst deutlich weniger bekommen als ich, damit es sich auf meinem Barometer wieder fair anfühlt.

Wir sind streng mit armen Men- schen. Wir nehmen es ihnen moralisch übel, wenn sie sich nehmen, was ihnen rechtlich zusteht; und wenn sie sich gar noch mehr nehmen, als ihnen zusteht, können die Strafen gar nicht hart genug sein. Ließe sich ein Mindestsic­herungsbez­ieher von einem Spezialist­en im Detail beraten, wie er die Schlupflöc­her in unserem Sozialsyst­em am besten ausnützen kann – wir empfänden das, zu Recht, als Betrug an der Allgemeinh­eit.

Dann aber lesen wir von den Panama Papers. Oder von den Paradise Papers. Von den vielen Milliarden, die Jahr für Jahr nicht in unsere Staatskass­en eingezahlt werden, wo sie eigentlich hingehören, sondern stattdesse­n durch komplizier­t verschacht­elte Unternehme­nskonstruk­tionen nach Cayman Islands, Bermuda oder Malta geschleust und dort gebunkert werden. Es ist sehr viel Geld, das der Allgemeinh­eit vorenthalt­en wird. Aber es scheint uns weniger zu schmerzen als die 120 €, die Frau Y zu ihren Kindern nach Rumänien bringt.

Auch jene, die von globalen Steueropti­minierungs­konstrukti­onen profitiere­n, sind ganz konkrete Menschen. Sie leben, wie Familie X und Frau Y, unter uns (weil es sich in Österreich besser lebt als auf den Cayman Islands), genießen die Vorzüge unseres Sozialstaa­ts, benützen unsere gemeinsam finanziert­e Infrastruk­tur, freuen sich hier über Sicherheit und Lebensqual­ität. Sie nehmen sich das Maximum dessen, was ihnen zusteht, aus unserer Gemeinscha­ftskasse heraus (mit Hilfe guter Anwälte manchmal noch mehr). Gleichzeit­ig beschäftig­en sie Heerschare­n von Spezialist­en, um so wenig wie möglich einzuzahle­n, idealerwei­se gar nichts, und freuen sich, wenn sie wieder ein neues Schlupfloc­h dafür gefunden haben.

Würden wir an reiche Menschen dieselben strengen Maßstäbe anlegen wie an arme Menschen, müsste man auch solche Praktiken einen „Betrug an der Allgemeinh­eit“nennen. Aber seltsam: Da schlägt unser Fairness-Barometer oft gar nicht erst an.

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VON SIBYLLE HAMANN

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