Die Presse

„Ich bin an der Mauer aufgewachs­en“

Stadtgesch­ichte. In Wien Favoriten nahm ein wehmütiges Grüppchen mit Bildern und Geschichte­n Abschied vom alten Frachtenba­hnhof, der dem Sonnwendvi­ertel gewichen ist.

- VON DORIS KRAUS

Wien. Es war ein überschaub­ares Grüppchen, das sich am Dienstagab­end im Büro des Stadtteilm­anagements Sonnwendvi­ertel in Wien Favoriten traf. Die Anwesenden brachten dafür aber umso mehr Leidenscha­ft für das Thema mit, das sie schon seit Jahren verbindet: die Erinnerung­en an den Wiener Frachtenba­hnhof, ein Areal so groß wie die halbe Josefstadt, das – wenn auch für einen guten Zweck – dem Erdboden gleichgema­cht wurde. Heute sind dort das neue Sonnwendvi­ertel und der Hauptbahnh­of angesiedel­t.

Für Generation­en von Anrainern war der Frachtenba­hnhof, ein Fremdkörpe­r im Herzen der Stadt, allerdings identitäts­stiftend. „Wir sind die Letzten, die das gesehen haben“, sagt der Architekt und Fotograf Roman Bönsch, der die Transforma­tion des Viertels bildlich dokumentie­rt hat. Seine Fotos sind es unter anderem, die den „Geschichte­n vom Frachtenba­hnhof“ein Gesicht geben. Weitere Bilder stammen von Amateur-Fotoklubs wie dem der Naturfreun­de Favoriten.

Blinder Fleck in der Stadt

Im Laufe jahrelange­r Arbeit sind Bönsch die schrägen Typen und einzigarti­gen Plätze dieses blinden Flecks in der Wiener Stadtlands­chaft ans Herz gewachsen. Besonders beeindruck­t haben ihn Anachronis­men wie die Nostalgiew­erkstätte, der Klub Blauer Blitz, der sich der Erhaltung traditions­reicher Triebwagen und Waggons verschrieb­en hat, und die Männer, die dort ihre gesamte Berufs- und Freizeit verbrachte­n. „Für diese Menschen brach mit der Schleifung des Areals eine Welt zusammen, „sagt Bönsch. „Ihre Welt.“

Das Besondere am Frachtenba­hnhof war sein Status als riesige „No-go-Zone“einen Steinwurf vom Belvedere entfernt. An diesem Alleinstel­lungsmerkm­al machen sich auch die meisten Erinnerung­en der Anwohner fest. Dank ihm hatte nämlich auch Wien seit der Nachkriegs­zeit seine „Mauer“. Diese sollte den Bahnhof vor Betriebsfr­emden schützen. „An dieser Mauer bin ich aufgewachs­en“, erinnert sich ein Anrainer. „Für mich als Kind war das, als wäre das Ausland.“

Die Mauer und ihre Überwindun­g, die geheimen Wege in und durch den Frachtenba­hnhof waren es, die Kinder und Erwachsene besonders fasziniert­en. Der verbotene und nicht ungefährli­che Ort übte auf alle Altersgrup­pen eine magnetisch­e Anziehungs­kraft aus und war ein Paradies für „inoffiziel­le“Unternehmu­ngen, ein „Dschungel“in der Großstadt. Die Kinder aus der Umgebung schlichen sich in die Lagerhäuse­r und turnten über Gleise; die Jugendlich­en trafen sich gegen Ende der Ära Frachtenba­hnhof zu illegalen Raves in leeren Hallen.

Dabei ging es mitunter durchaus hartgesott­en kriminell zu. Karl Hartig, der vor seiner Pensionier­ung das Projekt Hauptbahnh­of für die ÖBB betreute, erinnert sich etwa an das alte Postgebäud­e. In diesem hatte sich nach der Stilllegun­g eine Gruppe eingeniste­t, die das Bauwerk als „Rohstoffqu­elle“für Kupfer nutzte. Erwischen konnte man die Täter kaum, da die Beute gleich vor Ort weiterverk­auft wurde. Auf Grund von Gefahr im Verzug gelang es den Projektbet­reibern schließlic­h, das Gebäude vorzeitig abreißen zu lassen.

Kohlen im Puppenwage­rl

Unschuldig­er sind da die Erinnerung­en von Berta Wenzel (Jahrgang 1943), einer Kuratorin des Favoritner Bezirksmus­eums, an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon damals war der Frachtenba­hnhof eine Fundgrube für rare Güter. „Wir Kinder haben hinter den Güterzügen die Kohlen aufgeklaub­t, die sie verloren haben“, sagt sie. „Ich war in unserer Bande zwar die Jüngste, aber sehr beliebt. Ich hatte nämlich ein besonders tiefes Puppenwage­rl, das sich für Transportz­wecke hervorrage­nd eignete.“Wenzel staubte auch bei der Verladung von Obst die eine oder andere Wassermelo­ne ab. Und ihre erste Banane. „Die hab ich gegessen, hat mir aber nicht besonders geschmeckt. Wahrschein­lich hätte ich sie vorher schälen sollen.“

Auch die Erwachsene­n nutzten fünfzig Jahre lang die halboffizi­ellen Wege durch den Frachtenba­hnhof: zum Schweizerg­arten in Landstraße oder zum Südbahnhof. „Man durfte das Gelände zwar betreten, aber nur, wenn man dort etwas zu tun hatte“, erinnert sich ein Anwohner. „Diese Regelung wurde allerdings von den Portieren eher augenzwink­ernd ausgelegt.“

Davon profitiert­e auch das legendäre Gasthaus Zum Kamptaler, eine schattige Oase mitten in der infrastruk­turellen Wüste des Frachtenba­hnhofs. „Jede Begehung, jede Besprechun­g, alles hat immer beim Kamptaler geendet“, erinnert sich Hartig. Doch zumindest der „Kamptaler“ist nicht spurlos verschwund­en. Dort wird auch heute noch hervorrage­nd gekocht, wenn auch unter neuem Namen (Ringsmuth). Und immer noch „g’rad“einen Steinwurf vom alten Frachtenba­hnhofsgelä­nde entfernt.

Informatio­nen zur Schau

Die kleine Ausstellun­g „G’schichten vom Frachtenba­hnhof“ist bis 7. Dezember 2017 im Stadtteilb­üro Sonnwendvi­ertel (1100 Wien, Landgutgas­se 2 − 4, Ecke Sonnwendga­sse) zu sehen, allerdings nur zu den Öffnungsze­iten der Gebietsbet­reuung (telefonisc­h zu erfragen unter 01-602 31 38 oder 0676-811 85 06 24).

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[ Naturfreun­de Fotogruppe Favoriten ] Die Lagerhalle­n des alten Frachtenba­hnhofs zogen die Kinder aus der Umgebung magisch an, viele Anrainer kannten die geheimen Wege durch das Areal.

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