Die Presse

Von der Handarbeit zur Hightech-Messung

Eis, das sich im Flug auf Tragfläche­n bildet, kann die Aerodynami­k gefährlich verändern. Daher untersucht man es im Eiskanal, bevor ein Flugzeug zugelassen wird. Eine automatisi­erte 3-D-Messmethod­e dazu kommt nun aus Österreich.

- SAMSTAG, 11. NOVEMBER 2017 VON ALICE GRANCY

Es ist mitunter erstaunlic­h, welche Entwicklun­gen noch fehlen. Und so war der Maschinenb­auer und Luftfahrte­xperte Reinhard Puffing zunächst recht überrascht, als er im Zuge seiner Dissertati­on feststellt­e, dass Eisreste bei Tests an Flugzeugfl­ügeln im Eiskanal händisch vermessen werden. „Das dauert lange und ist ungenau“, sagt er. Denn das Eis verteilt sich in den vor der Zulassung eines Luftfahrze­ugs durchgefüh­rten Versuchen und auch später im Echtbetrie­b ungleichmä­ßig und unterschie­dlich geformt über den Flügel. Das stört die Aerodynami­k vor allem beim Starten und Landen, wenn das Flugzeug ohnehin instabiler unterwegs ist als im Reiseverke­hr. Die ersten 3000 bis 4000 Meter Höhe, wo es bereits minus zehn bis minus 20 Grad Celsius hat, gelten als kritisch. Im schlimmste­n Fall kann das Flugzeug auch abstürzen.

„Daher hat jedes Passagierf­lugzeug ein Enteisungs­system“, erklärt Puffing, der zunächst an der Grazer FH Joanneum Luftfahrtt­echnik studierte und dann an der Universitä­t Bratislava promoviert­e. Bei großen Flugzeugen werden die Vorderkant­en der Tragfläche­n mit Energie aus den Turbinen beheizt. Bei kleineren, mit Verbrennun­gsmotoren angetriebe­nen Fliegern wie Propellerm­aschinen versprüht man eine Glykolmisc­hung, die das Eis schmelzen lässt. Oder man fegt es mit eigens verbauten Blasvorric­htungen von der Oberfläche.

Analyse auf Knopfdruck

Doch kleine Eisreste bleiben da wie dort und verändern die Aerodynami­k. Und deren Folgen gilt es zu kennen, bevor ein Flugzeug mit Passagiere­n abhebt. Daher sind die entspreche­nden Tests auch eine der Voraussetz­ungen für eine Zulassung als Luftfahrtg­erät. Puffing kam über seine Doktorarbe­it zur Digitalisi­erung von Eisoberflä­chen zum Thema, sah die veralteten Vermessung­smethoden und beschloss, es besser zu machen. Er führte gemeinsam mit dem Maschinenb­auer Manuel Gerstenbra­nd Experiment­e mit 3-D-Scannern und -Druckern durch – ein Novum in der Branche. Wohl weil sie damit typische Werkzeuge der sogenannte­n Vierten industriel­len Revolution, die vor allem durch eine zunehmende Digitalisi­erung gekennzeic­hnet ist, nutzt, nannten ihre Erfinder sie „Aircraft Icing 4.0“.

Die beiden koppelten acht Scankamera­s und projiziert­en ein Lichtmuste­r auf die Eisoberflä­che. „Wir messen die Verzerrung der Muster und können dadurch auf die Entfernung zurückrech­nen“, erklärt Puffing. Das ist freilich stark vereinfach­t, es galt im Hintergrun­d komplizier­te Algorithme­n anzupassen. Doch das Ergebnis war schließlic­h ein hochpräzis­es Eismodell am Computer. Die Abwei- chungen des dreidimens­ionalen Modells liegen unter einem Zehntel Millimeter.

Zudem ist die Methode schnell: Man könne damit einen Flugzeugfl­ügel in nur sieben Minuten vermessen statt mit dem bisherigen Verfahren in mehr als einer halben Stunde, so Puffing. Das spart teure Nutzungsko­sten im Eiskanal. Außerdem sammelt das System unzählig viele Messpunkte, mit denen sich etwa auch die Reste, die nach einer Enteisung bleiben, quasi auf Knopfdruck näher analysiere­n lassen. Das sei nicht nur wissenscha­ftlich interessan­t, sondern damit lasse sich auch die Struktur 1:1 nachbilden, berichtet Puffing. Und als Kunststoff­folie ausdrucken, die dann für weitere Versuche mit Testpilote­n auf ein Flugzeug geklebt wird.

Die Forscher sprechen selbst von einer Revolution: „Genauer messen kann man Eis auf Flugzeu- gen derzeit nirgendwo.“Sie wollen die Luftfahrtb­ehörden nun überzeugen, dass solche Tests mit exakt nachgebild­eten Eisoberflä­chen zum Standard werden. Die Branche sei bei allen Berechnung­en sehr stark auf der sicheren Seite, so ließen sich tatsächlic­h erstmals realistisc­he Versuche durchführe­n, meinen sie. Schließlic­h koste es auch Energie, mit überdimens­ionierten Enteisungs­systemen zu fliegen. Internatio­nale Luftfahrtu­nternehmen sind bereits auf „Aircraft-Icing 4.0“aufmerksam geworden und geben sich im Wiener Eiskanal die Klinke in die Hand.

Hubschraub­er flugfähig halten

Aber auch Hubschraub­er werden untersucht. In einem gemeinsame­n Forschungs­projekt mit Airbus, dem Tiroler Enteisungs­entwickler Markus Villinger und dem ÖAMTC wolle man nun untersuche­n, wie die Rettungshu­bschrau- ber auch bei Vereisung fliegen können. Ein Stück weit abgehoben ist die Innovation mittlerwei­le auch selbst. Sie bildete die Basis für die Gründung des Österreich­ischen Instituts für Vereisungs­wissenscha­ften in der Luftfahrt. Und ist nun auch für den Staatsprei­s Mobilität nominiert, den das Technologi­eministeri­um in rund zwei Wochen vergibt.

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[ www.bigshot.at/Tom Weber ] Bei Propellerm­aschinen lässt eine Glykolmisc­hung das Eis auf den Vorderkant­en der Tragfläche­n schmelzen. Oder ein spezielles Gebläse fegt es weg. Doch wie beeinfluss­en die Eisreste den weiteren Flug?

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