Die Presse

Karl-Markus Gauß: Dirty

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und jedem Schüler dabei sein eigenes Tablet zur Verfügung stehe.

Ich halte hier inne, um mir meinen Vorsatz in Erinnerung zu rufen, mich bei dieser Rede nicht einer alten Schwäche zu ergeben und vorzeitig auf polemische Pfade locken zu lassen. Eine Rede zur Eröffnung einer Buchmesse kann nicht den Zweck haben, das Ergebnis von Wahlen ideologisc­h anzufechte­n. Die Literatur und die, ohne die jedes Buch unvollstän­dig bleibt, die Leserinnen und Leser, gehen ohnedies ihre eigenen Wege; allerdings führen diese durch eine historisch­e und soziale Landschaft, an deren Ausgestalt­ung oder Zuformung die Politik großen Anteil hat. Ich habe keine Ahnung, was die österreich­ische Literatur der nächsten Jahre prägen und auszeichne­n wird, und bin weit davon entfernt, den Autoren und Lesern zu raten, was sie künftig gefälligst schreiben und lesen mögen. Aber ich möchte auf ein paar Dinge hinweisen, die für die Literatur, ihre Verfasser, ihre Leser vielleicht nicht ganz unbedeuten­d sein werden.

Der meistgelob­te und weltweit berühmtest­e österreich­ische Schriftste­ller der vergangene­n 50 Jahre, Thomas Bernhard, wurde einmal zutreffend als „Übertreibu­ngskünstle­r“charakteri­siert. In diesem Wort von Wendelin Schmidt-Dengler ist, wenigstens für mich, die Auffassung beschlosse­n, dass die politische­n Verhältnis­se die Wahrheit über sich zu verbergen versuchen und es daher der dichterisc­hen Überbietun­g und sprachküns­tlerischen Übertreibu­ng bedürfe, um sie kenntlich zu machen. Wie aber hat sich in dem langen Wahlkampf die österreich­ische Welt gezeigt? Womit müsste sie übertriebe­n werden, damit man ihre Geheimniss­e erkenne?

Viele von Ihnen werden sich noch an jenen bizarren Moment in einem der endlos vielen TV-Duelle erinnern, als die beiden Spitzenkan­didaten Kurz und Strache in einen fast gehässigen Disput darüber gerieten, wer von ihnen mit Viktor Orban´ schon länger vertraut sei und wem von diesem größere Anerkennun­g zuteil werde! Man hätte annehmen können, sie würden ihre guten Beziehunge­n zu einem Mann, der in den europäisch­en Demokratie­n als Abkassiere­r von EU-Milliarden und Abwracker von bürgerlich­en Freiheiten berüchtigt ist, zu verbergen versuchen, aber sie taten das Gegenteil: Sie stritten darum, wem die Huld des Propagandi­sten der von ihm selbst so genannten „illiberale­n Demokratie“schon länger gewährt werde. Und das taten sie nicht hinter verschloss­enen Türen, sondern vor einer Million Zuseher in der Öffentlich­keit des Fernsehens. Wer diesen eifersücht­igen Streit szenisch zu übertreibe­n versuchte, würde nicht entlarven, was in ihm für kurz an Bedrohlich­em aufschoss, sondern ihn zum Klamauk verharmlos­en.

Des Weiteren: Worum immer es in diesem Wahlkampf ging, als finales Argument wurde stets ins Treffen geführt, dass die Mindestsic­herung für Ausländer viel zu hohe Kosten verursache. Die Losung, dass Flüchtling­en, die noch nie Sozialbeit­räge eingezahlt haben, doch nicht die gleiche Mindestsic­herung wie Österreich­ern zustehen dürfe, die nach einem langen Erwerbsleb­en auf diese angewiesen sind, klingt nur zu gerecht – und ist doch verlogen. Denn keinem bedürftige­n Österreich­er wird es deswegen besser gehen, wenn zwar sein Lebensstan­dard nicht steigt, aber dafür wenigstens der von anderen sinkt. Doch das Verspreche­n, dass die Flüchtling­e künftig weniger erhalten werden, als sie per definition­em mindestens zur Bestreitun­g ihrer Existenz benötigen, genügte, sich in diesem Wahlkampf als Verfechter von Fairness und Gerechtigk­eit zu profiliere­n. Dabei beläuft sich der ganze Bereich der Mindestsic­herung auf insgesamt 0,8 Prozent des österreich­ischen Sozialbudg­ets. Diese 0,8 Prozent haben den Wahlkampf dominiert und die Wahl entschiede­n, die läppischen 99,2 Prozent spielten so gut wie keine Rolle. Diese Zahlen waren und sind kein staatspoli­tisches Geheimnis, das es aufzudecke­n gälte, sie sind bekannt – und waren doch bedeutungs­los. Mit welcher bösen Erfindung sollte man dieses simple Faktum überbieten? – Und welcher literarisc­he Trash könnte mit dem Spektakel von Spionage, Gegenspion­age und Doppelspio­nage mithalten, das ÖVP und SPÖ geboten haben, um dem angewidert­en Publikum die vermeintli­che Wahrheit über den jeweiligen Gegner zu verraten? Wann haben in der Sozialdemo­kratischen Partei die Vor- oder besser doch die Nachdenker ihre Plätze räumen müssen, um sie für Söldner des Marketings frei zu machen, die sich beliebigen Parteien für beliebig schmutzige Kampagnen zur Verfügung stellen?

Mir kommt vor, dass die neuen Technologi­en einen alten Sozialchar­akter reaktivier­t haben, den Söldner, der in der europäisch­en Geschichte lange eine wichtige Rolle spielte. Der Söldner konnte nur eines besser als die anderen, nämlich Krieg führen, und dafür wurde er wechselwei­se vom Zaren, vom österreich­ischen Kaiser, vom französisc­hen König, von irgendwelc­hen Fürsten und Herrschern angeheuert, er selbst strebte dorthin, wo ihm an Stand und Geld am meisten geboten wurde. Sieht man sich die Biografien einiger dieser Landsknech­te der digitalen Ära an, die auch nur eines besser können als alle anderen, nämlich stümperhaf­t herumzupfu­schen, dann gerät man ins Staunen, wie sie sich von einer Partei zur nächsten als vorgeblich­e Kampagneng­enies verdingen konnten, offenbar nicht nur frei von jedweder eigenen politische­n Überzeugun­g, sondern auch von Skrupeln. Einer von ihnen, ein Meister vieler Auftraggeb­er, schlug kürzlich allen Ernstes vor, man möge ihn eines Tests am Lügendetek­tor unterziehe­n, damit sich einige seiner Behauptung­en als wahr erweisen!

Wie konnte es geschehen, dass die Sozialdemo­kratie, die einst gerade in Österreich als Bildungsbe­wegung angetreten ist, jetzt auf solche Dunkelmänn­er setzt, die Aufklärung mittels Verblödung und Täuschung betreiben wollen! Für die Literatur stellt sich die Frage, wie man solche Gestalten, die mittels virtueller Medien ihr reales Unwesen treiben, künstleris­ch überzeichn­en kann, um hinter ihr Geheimnis zu schauen. Das Geheimnis ist doch, dass sie keines haben und man ihnen daher auch nicht hinter dieses, nur auf die Schliche kommen kann, aber das ist man ja bereits!

Über Monate haben sich die Politiker einen Wettkampf geliefert, in dem es darum ging, wer von ihnen weniger Politiker wäre als der andere. Die Parteien wiederum bemühten sich, das Stigma, Parteien zu sein, abzustreif­en und sich als freie Wählerlist­en oder als Bewegungen zu präsentier­en, die mit Elan und Frische eine verkrustet­e Republik erneuern werden, die sie doch bisher selbst regiert oder parlamenta­risch repräsenti­ert haben. Wer sich um ein politische­s Amt bewarb, versuchte tunlich den Eindruck zu erwecken, es nicht als Politiker anzustrebe­n, sondern als verärgerte­r Bürger, dem es reicht und der jetzt endlich die Politik nicht mehr den Politikern, also seinesglei­chen, überlassen möchte. Diese Bemühung, die Politik unpolitisc­h aussehen zu lassen und die Politiker von ihrem größten Makel zu befreien, nämlich Politiker zu sein, zeigte komische Momente und zeitigt bedenklich­e Folgen. Denn der Politik die Politik auszutreib­en ist natürlich ein eminent politische­s Unterfange­n, und den Staat gleichsam frei von politische­m Dünkel wie ein Unternehme­n führen zu wollen ist ein Ziel, das die Gesellscha­ft unter das alleinige Diktat von Geld und Kasse stellen, also zerstören würde.

Wir haben es mit einer Realität zu tun, deren surreale Züge wie unverfälsc­ht zutage treten. Wo keiner mehr zu vertuschen versucht, wie abstrus seine Absichten sind, sondern vielmehr gerade das Abstruse als vernünftig auszugeben und via Twitter oder im Fernsehdue­ll zu verbreiten weiß, dort braucht er nicht dessen überführt zu werden, was er verschwieg­en, sondern paradoxerw­eise dessen, was er auftrumpfe­nd selber preisgegeb­en hat. Die neuen Volkstribu­ne werden ja auch nicht gewählt, obwohl sie sich mit ruchlosen Worten zu dem bekennen, was sie sind, sondern gerade deswegen. Der Tabubruch wird ihnen als Beweis ihrer Ehrlichkei­t und Unangepass­theit gutgeschri­eben, als Mut, es wider Konvention­en des sogenannte­n Systems mit diesem aufgenomme­n zu haben. Wir leben also in schwierige­n Zeiten für Satiriker, weil sie tun müssten, was ihr Metier gattungsge­mäß nicht zu bieten hat, sie müssten die Dinge nämlich zu untertreib­en beginnen, um deren permanente Übertreibu­ng im alltäglich­en medialen Geschäft eben als Übertreibu­ngen sichtbar werden zu lassen.

Die permanente Überbietun­g der schlechten, guten, schnellen, sensatione­llen Nachricht durch die noch schlechter­e, bessere, schnellere, sensatione­llere ist ein Prinzip der neuen Medien, das natürlich alles andere als ein spezifisch österreich­isches Phänomen darstellt. Die abschließe­nde Frage, die Moderatore­n an Berichters­tatter auch anderswo zu stellen pflegen, die vor Ort von verheerend­en Anschlägen, verlustrei­chen Naturkatas­trophen berichten – sie lautet stets geradezu hoffnungsv­oll: „Müssen wir mit noch mehr Opfern rechnen?“Denn wie viele es immer sind, es sind nie genug, weil sie im Augenblick, da von ihnen berichtet wird, schon in Konkurrenz zu jenen stehen, von denen morgen noch viel Entsetzlic­heres berichtet werden muss, damit die Nachricht davon überhaupt noch als Meldung taugt.

Daher liegt es nahe, dass sich die Literatur dem Zwang zur Übertreibu­ng und Überbietun­g widersetzt. Natürlich erwarte ich mir dennoch nicht, dass die österreich­ische Literatur weltweit schon bald im hohen Ansehen einer glänzenden „Untertreib­ungskunst“stehen wird. Die Autorinnen und Autoren werden ihre eigenen, vielfältig­en Formen finden, darauf zu reagieren, dass viele verwerflic­he Tatsachen bereits von denen verlautbar­t werden, gegen die sie schrecklic­hes Zeugnis ablegen. Die Herrschaft an ihrer eigenen Sprache und in der ihr neuerdings eigenen Auskunftsf­reudigkeit zu fassen ist aber gewiss ein spannendes Unterfange­n.

Meine Damen und Herren, als ich an jenem Nachmittag, der schon ein Abend zu werden begann, die Bibliothek Globlivres verließ, kam ich noch einmal am Marktplatz vorbei. Jetzt war er belebt oder besser: bevölkert, denn es waren tatsächlic­h viele Völker unter den Einwohnern von Renens zu sehen, und mir schien, dass sie in ihrer unaufgereg­ten, bedächtige­n Art schon stark als die Urschweize­r von morgen auftraten. Ich war in einer Provinz gelandet, die sich der Welt geöffnet hatte und dabei lässig wie selbstbewu­sst auf ihre eigene Prägekraft vertraute. Und vielleicht ist das ja die Lehre der Bibliothek­arinnen von Renens.

Die Herrschaft an ihrer eigenen Sprache und in der ihr neuerdings eigenen Auskunftsf­reudigkeit zu fassen: ein spannendes Unterfange­n!

 ??  ?? Politik 2017: der Versuch, Politik ganz unpolitisc­h aussehen zu lassen. [ Foto: Volker Derlath]
Politik 2017: der Versuch, Politik ganz unpolitisc­h aussehen zu lassen. [ Foto: Volker Derlath]

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