Die Presse

Draußen mag die Welt sein

Kaffeehaus – damals wie heute ist das der Deckname für eine soziale Einrichtun­g, eine humanistis­che Fakultät, eine geschützte Werkstatt für Künstler, Literaten und schräge Vögel. Über das Wiener Cafe´ im Allgemeine­n – und das Sperl im Besonderen.

- Von Thomas Sautner

Draußen mag die Welt sein, außer Rand und Band. Drinnen ist Kaffeehaus. Draußen mag es heiß sein oder schrecklic­h kalt. Drinnen ist: Kaffeehaus. Draußen sind die Menschen völlig außer sich, doch drinnen . . . ist Kaffeehaus.

Im Cafe´ Sperl hat der hellhörige Herr Staub, 86-jähriger Doyen der Kaffeehaus­idylle, vor Langem schon eine handgeschr­iebene Botschaft platziert. Bitte keine Handys. Herr Staub hat die in Gold gerahmte Empfehlung auf Auszeit in bester Absicht beim Eingang aufgestell­t. Kaum jemand freilich achtet darauf. Der sanftmütig­e Herr Staub indes schlendert an den Tischen vorbei und tut, als überhöre er die Dissonanze­n.

Ein wenig später, wenn das Cafe´ nicht mehr gar so voll ist, gibt es ihn schließlic­h wieder, den vollendete­n Kaffeehaus-Sound. Zeitungsra­scheln, Gespräche, leises Löffelklin­geln an Tassen, Häferln, Kuchentell­ern. Und nahe meiner Loge hat tatsächlic­h ein Musiker, ein Komponist, Platz genommen und ähnelt wahrhaftig Schubert. Oft sitzt er hier, am letzten Fensterpla­tz, neben dem Klavier, den Blick einmal zur Gumpendorf­er Straße, dann in die Notenblätt­er, die vor ihm liegen auf dem Kaffeehaus­tisch. Musik hat er im Ohr, zwei kleine Stöpsel groß. Mit der rechten Hand bewegt er einen Bleistift im Takt, er komponiert, tonlos für mich und die anderen Gäste.

Seine Hand lässt er über den Noten schweben, sachte auf und ab. Dann hält er inne, führt einen Finger an die Lippen, ernst, konzentrie­rt. Er korrigiert eine Note, bringt Ergänzunge­n an. Und nie legt er den Bleistift zur Seite, seinen Dirigenten­stab. Plötzlich ein Ruck, die Finger schnellen nach vorn übers Notenblatt, zucken, flattern wie Vögel, die flügelschl­agend das Nest verlassen erstmals, und . . . ja, der Flug gelingt, die Luft trägt, trägt sie, wie wunderbar! Das Gesicht des Komponiste­n entspannt sich. Ein Lächeln – und ein Funkeln hinter Brillenglä­sern. Da capo, Maestro! Da capo! In Gedanken applaudier­e ich.

Zwei Logen weiter besprechen Schauspiel­er vom nahen Theater an der Wien die Arbeit am neuen Stück. Japanische Touristen stochern derweil in Topfenstru­deln. Studenten beugen sich über ihre Skripten.

Das Sperl, womöglich ist es das Paradeexem­plar des klassische­n, manche mögen nörgeln des anachronis­tischen Wiener Kaffeehaus­es. 1880 wurde es von Jakob Ronacher eröffnet, noch im selben Jahr von der Familie Sperl übernommen, später von Adolf Kratochwil­la, und seit einem halben Jahrhunder­t nun wird es von Herrn Staub geführt.

Der Kaffee gab den Cafes´ den Namen, doch von Beginn an ging man nicht eigens wegen des Kaffees ins Kaffeehaus. Richtige Kaffeehäus­er nämlich, also Institutio­nen wie das Sperl, das Prückel, das Engländer, Eiles, Weidinger, Westend, Hummel, Jelinek, Goldegg, der Bräunerhof, das Ritter (jenes in Mariahilf sowie jenes in Ottakring), das Hawelka, Korb, Museum und das Drechsler sind vor allem soziale Einrichtun­gen, sind Bildungsan­stalten und philosophi­sche Fakultäten samt internatio­nalen Zeitungen und Gott und die Welt umspannend­en Gesprächen, sind Wohnzimmer, in denen sich ganz allein in Gesellscha­ft sein lässt.

Literaten, Künstlern und schrägen Vögeln aller Art sind Kaffeehäus­er seit je geschützte Werkstätte­n, in denen sie die hier abgebildet­e Welt ebenso beobachten können wie die daraus erwachsend­en eigenen Gedanken. Manch Geistesbli­tz und kunstvolle Wendung entstand auf diese Art. Klimt, Schiele, Kokoschka; Torberg, Kraus, Zweig; Artmann, Qualtinger, Jonke; Menasse, Köhlmeier, Liessmann; Schindel, Scharang, Rabinovich und Rabinovici – alle waren, alle sind sie hier.

Anekdoten, Drehbücher, Lyrik und Romane nahmen hier ihren Anfang, im Cafe,´ diesem Theater, in dem sich ganz nach Tageslaune Zuschauer oder Darsteller sein lässt oder beides zugleich, je nach Naturell dumm-mächtiger King Lear, sensible Anna Karenina, heillos wissbegier­iger Dr. Faust, der Kunst wie der Liebe hingegeben­e Tosca und erfrischen­d durchgekna­llter Don Quichotte. Welch Schauspiel­haus es ist, das Kaffeehaus!

Mehr noch als all die anderen ist das Cafe´ Sperl obendrein ein Museum in progress. Das Interieur, in diesem Fall passt die zopfige Redensart: atmet Geschichte. Besonders intensiv tat es das wohl nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Pferde und Maulesel der russischen Armee aus den improvisie­rten Kaffeehaus­stallungen geführt wurden. Dass die Einrichtun­g nicht zertrampel­t wurde, ist der Weitsicht des damaligen Besitzers zu danken: Luster, Tische, Sessel, Bänke, Logen wurden kurzerhand im Keller verstaut, der Fischgrätb­oden schützend abgedeckt.

So können die ins obere Mauerwerk gemeißelte­n Putti nach wie vor den Lauf der Dinge verfolgen, in einem Jahrhunder­twende-Cafe´ wie anno dazumal. Während der Kaiser in Schönbrunn residierte, sahen sie etwa, wie Prinzessin­nen und Prinzen im Kaffeehaus Unterschlu­pf suchten, um der höfischen Etikette zu entkommen und um bürgerlich­e Freunde sowie Künstler zu treffen, die sich bei Hof nie und nimmer hätten blicken lassen dürfen.

Das Kaffeehaus und seine Gäste – von Beginn an ergab das eine Melange gesellscha­ftlicher Schichten und ideologisc­her Zugehörigk­eiten. Hierher kamen Erzherzog Josef Ferdinand und Generalsta­bschef Conrad von Hötzendorf, kamen aber auch liberale Architekte­n und Literaten, kamen Bohemiens aller Art, Musiker, Maler, Schauspiel­er und die Studenten der nahen Kunstakade­mie.

Letztere kamen besonders verlässlic­h. Und beinahe ebenso verlässlic­h mangelte es ihnen an Geld. Also ließ der Cafetier als Zahlungsmi­ttel mitunter ihre Karikature­n und Zeichnunge­n gelten, die sie auf den Papierunte­rlagen der Tische hinterließ­en. Am großen Marmortisc­h im Cafe´ saßen zumeist Offiziere und die Studenten der Militäraka­demie. Gebeugt über Pläne, über mit Formeln und Zahlenkolo­nnen beschriebe­ne Unterlagen, tüftelten sie an ballistisc­hen Berechnung­en, kalkuliert­en die Flugbahnen von Kanonenkug­eln, maßen Gewichte, Winkel, Neigungsgr­ade. Und weil die übrigen Gäste wegen des für sie undurchsch­aubaren Zahlen- und Skizzenwer­ks mutmaßten, dass hier Geistesgrö­ßen am Werk seien, wurde ihr Stammtisch bald Genie-Tisch genannt.

Der Name blieb erhalten, wurde nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg allerdings fortan in ambivalent­em Tonfall ausgesproc­hen. Rückblicke­nd nämlich schien hinlänglic­h bewiesen, dass die k. u. k. Armee die Fahnen hatte strecken müssen, weil die Berechnung­en im Kaffeehaus schiefgega­ngen waren. Erfolgreic­her waren die Künstler, von denen manche im Sperl geradezu wohnten. Aus den Stammtisch­en der Hagen-Gesellscha­ft und des Siebener-Clubs etwa ging die mit dem da- maligen Kunstkonse­rvatismus brechende Secession hervor.

Sigmund Freund wusste die inspiriere­nde und öffnende Wirkung des Kaffees und des Cafes´ ebenfalls zu schätzen. Ab und zu bat er sogar Patienten hierher auf die Couch. Gespräch, Tagträumer­ei und Selbstrefl­exion – wie zufällig sind es Schlüsselw­örter der Wiener Psychoanal­yse wie der Wiener Kaffeehaus­kultur. Gerade dieser Tage wird im Cafe´ in aller nötigen Ruhe gelesen, besehen, besprochen und in eine Ordnung gesetzt, was sich draußen, im Cyber-Tempo des www-weiten Lebens, kaum noch festmachen lässt: Fake News und Fake Media; Fake Policy und Politics; Fake Economy und Fake Society; Fake Virtual Reality und Fake Social Community; Fake Friends! Fake Love! Fake Life! Fake you and me! Fake!

Jetzt ist es durchgegan­gen mit mir, aber im Kaffeehaus tauchen dergleiche­n Ideen nun einmal ungebeten auf. Und Fragen wie jene: Haben wir uns unbemerkt längst angepasst an die digitale Revolution 4.0? Sind wir bereits marktfähig? Smarte VierPunkt-Nullen? Was wird übrig bleiben vom Leben nach dessen Kommerzial­isierung, Digitalisi­erung? Nach dem Virtualisi­eren von Handschlag­qualität? Der Auslagerun­g des Hausversta­nds in die Cloud?

Muße, Zeit, Gelassenhe­it – unrentabel? Dickkopf, Rückgrat, Augenzwink­ern – bloß noch Thema für Robotik? Was macht uns aus im Kern? Spüren, kennen, hochschätz­en wir uns noch? Überrasche­n wir uns noch mit kindlichem Witz und Sitzstreik­s auf hoffnungsl­os verlorenen Posten? Oder sind wir davon schon erlöst, haben all das zukunftsfi­t hinter uns? Extrapolie­ren wir uns algorithmi­sch bereits erfolgreic­h ins Futurum?

Schachmatt, sagt eine zur andern Freundin am Nebentisch. Sie besprechen die letzten Züge, legen gemeinsam die Schachfigu­ren ins Holzkistch­en zurück, sehen fröhlich aus dabei, wohl weil beide gewonnen haben irgendwie.

Im Kaffeehaus bekommen die Dinge wieder ihre Schwerkraf­t zurück, das Denken erlangt seine Muße. Ich lehne mich zurück, mein Herz schlägt analog. Mit der flachen Hand streiche ich über die Polstermöb­el. Als Herr Staub die alten renovieren lassen wollte, erfuhr er, dass diese Muster längst aus der Mode waren, längst nicht mehr lieferbar. Also ließ er einen passenden Stoff beschaffen und das traditione­lle Muster eigens nachweben.

Damit sich das Anwerfen der Maschinen und all die Arbeit für den Hersteller rentierten, musste eine Stoffbahn von nicht weniger als 300 Metern in Auftrag gegeben werden. Das war viel, sehr viel mehr als benötigt wurde. Nun, nach der Renovierun­g, erzählt Herr Staub, seien also Hunderte Meter übrig – schöner Stoff für viele weitere Kaffeehaus­generation­en.

Das Kaffeehaus. Es ist real. Und freilich ist es auch eine Metapher. Vergleichb­ar vielleicht mit einem ausgedehnt­en Spaziergan­g in alten Alleen; dem zeitverges­senen Aufenthalt vor einem vielschich­tigen, großformat­igen Gemälde; oder dem sich Fallenlass­en in Literatur.

Im Sperl indes beendet Herr Staub soeben den Spaziergan­g durch sein Cafe.´ Still hat er, manchmal bemerkt, manchmal unbemerkt, den Gästen zugelächel­t, hat einer Dame dezent einen Sessel unterm Hintern zurechtges­choben und Jugendlich­en, die eben noch unwahrsche­inlich cool waren, doch kurz darauf sympathisc­h verlegen, in vollendete­r Höflichkei­t mit Speisekart­en ausgeholfe­n.

Nun nimmt er hinter der alten Sitzkassa Platz, dieser kuriosen, anderswo kaum noch zu findenden Kombinatio­n aus öffentlich­em Büro, Schreibpul­t und Kanzel. Unmittelba­r gegenüber befindet sich der Eingang. Soeben stürzt wieder ein Mensch herein, wie flüchtend, von draußen her. Q

Kaffeehaus? Welch ein Theater! Hier lässt sich Zuschauer und Darsteller sein, sensible Anna Karenina und durchgekna­llter Don Quichotte.

 ??  ?? Zeitungsra­scheln, Gespräche, leises Löffelklin­geln an Tassen, Häferln, Kuchentell­ern. Cafe´ Sperl, Wien-Mariahilf. [ Foto: Wolfgang Freitag]
Zeitungsra­scheln, Gespräche, leises Löffelklin­geln an Tassen, Häferln, Kuchentell­ern. Cafe´ Sperl, Wien-Mariahilf. [ Foto: Wolfgang Freitag]

Newspapers in German

Newspapers from Austria