Draußen mag die Welt sein
Kaffeehaus – damals wie heute ist das der Deckname für eine soziale Einrichtung, eine humanistische Fakultät, eine geschützte Werkstatt für Künstler, Literaten und schräge Vögel. Über das Wiener Cafe´ im Allgemeinen – und das Sperl im Besonderen.
Draußen mag die Welt sein, außer Rand und Band. Drinnen ist Kaffeehaus. Draußen mag es heiß sein oder schrecklich kalt. Drinnen ist: Kaffeehaus. Draußen sind die Menschen völlig außer sich, doch drinnen . . . ist Kaffeehaus.
Im Cafe´ Sperl hat der hellhörige Herr Staub, 86-jähriger Doyen der Kaffeehausidylle, vor Langem schon eine handgeschriebene Botschaft platziert. Bitte keine Handys. Herr Staub hat die in Gold gerahmte Empfehlung auf Auszeit in bester Absicht beim Eingang aufgestellt. Kaum jemand freilich achtet darauf. Der sanftmütige Herr Staub indes schlendert an den Tischen vorbei und tut, als überhöre er die Dissonanzen.
Ein wenig später, wenn das Cafe´ nicht mehr gar so voll ist, gibt es ihn schließlich wieder, den vollendeten Kaffeehaus-Sound. Zeitungsrascheln, Gespräche, leises Löffelklingeln an Tassen, Häferln, Kuchentellern. Und nahe meiner Loge hat tatsächlich ein Musiker, ein Komponist, Platz genommen und ähnelt wahrhaftig Schubert. Oft sitzt er hier, am letzten Fensterplatz, neben dem Klavier, den Blick einmal zur Gumpendorfer Straße, dann in die Notenblätter, die vor ihm liegen auf dem Kaffeehaustisch. Musik hat er im Ohr, zwei kleine Stöpsel groß. Mit der rechten Hand bewegt er einen Bleistift im Takt, er komponiert, tonlos für mich und die anderen Gäste.
Seine Hand lässt er über den Noten schweben, sachte auf und ab. Dann hält er inne, führt einen Finger an die Lippen, ernst, konzentriert. Er korrigiert eine Note, bringt Ergänzungen an. Und nie legt er den Bleistift zur Seite, seinen Dirigentenstab. Plötzlich ein Ruck, die Finger schnellen nach vorn übers Notenblatt, zucken, flattern wie Vögel, die flügelschlagend das Nest verlassen erstmals, und . . . ja, der Flug gelingt, die Luft trägt, trägt sie, wie wunderbar! Das Gesicht des Komponisten entspannt sich. Ein Lächeln – und ein Funkeln hinter Brillengläsern. Da capo, Maestro! Da capo! In Gedanken applaudiere ich.
Zwei Logen weiter besprechen Schauspieler vom nahen Theater an der Wien die Arbeit am neuen Stück. Japanische Touristen stochern derweil in Topfenstrudeln. Studenten beugen sich über ihre Skripten.
Das Sperl, womöglich ist es das Paradeexemplar des klassischen, manche mögen nörgeln des anachronistischen Wiener Kaffeehauses. 1880 wurde es von Jakob Ronacher eröffnet, noch im selben Jahr von der Familie Sperl übernommen, später von Adolf Kratochwilla, und seit einem halben Jahrhundert nun wird es von Herrn Staub geführt.
Der Kaffee gab den Cafes´ den Namen, doch von Beginn an ging man nicht eigens wegen des Kaffees ins Kaffeehaus. Richtige Kaffeehäuser nämlich, also Institutionen wie das Sperl, das Prückel, das Engländer, Eiles, Weidinger, Westend, Hummel, Jelinek, Goldegg, der Bräunerhof, das Ritter (jenes in Mariahilf sowie jenes in Ottakring), das Hawelka, Korb, Museum und das Drechsler sind vor allem soziale Einrichtungen, sind Bildungsanstalten und philosophische Fakultäten samt internationalen Zeitungen und Gott und die Welt umspannenden Gesprächen, sind Wohnzimmer, in denen sich ganz allein in Gesellschaft sein lässt.
Literaten, Künstlern und schrägen Vögeln aller Art sind Kaffeehäuser seit je geschützte Werkstätten, in denen sie die hier abgebildete Welt ebenso beobachten können wie die daraus erwachsenden eigenen Gedanken. Manch Geistesblitz und kunstvolle Wendung entstand auf diese Art. Klimt, Schiele, Kokoschka; Torberg, Kraus, Zweig; Artmann, Qualtinger, Jonke; Menasse, Köhlmeier, Liessmann; Schindel, Scharang, Rabinovich und Rabinovici – alle waren, alle sind sie hier.
Anekdoten, Drehbücher, Lyrik und Romane nahmen hier ihren Anfang, im Cafe,´ diesem Theater, in dem sich ganz nach Tageslaune Zuschauer oder Darsteller sein lässt oder beides zugleich, je nach Naturell dumm-mächtiger King Lear, sensible Anna Karenina, heillos wissbegieriger Dr. Faust, der Kunst wie der Liebe hingegebene Tosca und erfrischend durchgeknallter Don Quichotte. Welch Schauspielhaus es ist, das Kaffeehaus!
Mehr noch als all die anderen ist das Cafe´ Sperl obendrein ein Museum in progress. Das Interieur, in diesem Fall passt die zopfige Redensart: atmet Geschichte. Besonders intensiv tat es das wohl nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Pferde und Maulesel der russischen Armee aus den improvisierten Kaffeehausstallungen geführt wurden. Dass die Einrichtung nicht zertrampelt wurde, ist der Weitsicht des damaligen Besitzers zu danken: Luster, Tische, Sessel, Bänke, Logen wurden kurzerhand im Keller verstaut, der Fischgrätboden schützend abgedeckt.
So können die ins obere Mauerwerk gemeißelten Putti nach wie vor den Lauf der Dinge verfolgen, in einem Jahrhundertwende-Cafe´ wie anno dazumal. Während der Kaiser in Schönbrunn residierte, sahen sie etwa, wie Prinzessinnen und Prinzen im Kaffeehaus Unterschlupf suchten, um der höfischen Etikette zu entkommen und um bürgerliche Freunde sowie Künstler zu treffen, die sich bei Hof nie und nimmer hätten blicken lassen dürfen.
Das Kaffeehaus und seine Gäste – von Beginn an ergab das eine Melange gesellschaftlicher Schichten und ideologischer Zugehörigkeiten. Hierher kamen Erzherzog Josef Ferdinand und Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, kamen aber auch liberale Architekten und Literaten, kamen Bohemiens aller Art, Musiker, Maler, Schauspieler und die Studenten der nahen Kunstakademie.
Letztere kamen besonders verlässlich. Und beinahe ebenso verlässlich mangelte es ihnen an Geld. Also ließ der Cafetier als Zahlungsmittel mitunter ihre Karikaturen und Zeichnungen gelten, die sie auf den Papierunterlagen der Tische hinterließen. Am großen Marmortisch im Cafe´ saßen zumeist Offiziere und die Studenten der Militärakademie. Gebeugt über Pläne, über mit Formeln und Zahlenkolonnen beschriebene Unterlagen, tüftelten sie an ballistischen Berechnungen, kalkulierten die Flugbahnen von Kanonenkugeln, maßen Gewichte, Winkel, Neigungsgrade. Und weil die übrigen Gäste wegen des für sie undurchschaubaren Zahlen- und Skizzenwerks mutmaßten, dass hier Geistesgrößen am Werk seien, wurde ihr Stammtisch bald Genie-Tisch genannt.
Der Name blieb erhalten, wurde nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg allerdings fortan in ambivalentem Tonfall ausgesprochen. Rückblickend nämlich schien hinlänglich bewiesen, dass die k. u. k. Armee die Fahnen hatte strecken müssen, weil die Berechnungen im Kaffeehaus schiefgegangen waren. Erfolgreicher waren die Künstler, von denen manche im Sperl geradezu wohnten. Aus den Stammtischen der Hagen-Gesellschaft und des Siebener-Clubs etwa ging die mit dem da- maligen Kunstkonservatismus brechende Secession hervor.
Sigmund Freund wusste die inspirierende und öffnende Wirkung des Kaffees und des Cafes´ ebenfalls zu schätzen. Ab und zu bat er sogar Patienten hierher auf die Couch. Gespräch, Tagträumerei und Selbstreflexion – wie zufällig sind es Schlüsselwörter der Wiener Psychoanalyse wie der Wiener Kaffeehauskultur. Gerade dieser Tage wird im Cafe´ in aller nötigen Ruhe gelesen, besehen, besprochen und in eine Ordnung gesetzt, was sich draußen, im Cyber-Tempo des www-weiten Lebens, kaum noch festmachen lässt: Fake News und Fake Media; Fake Policy und Politics; Fake Economy und Fake Society; Fake Virtual Reality und Fake Social Community; Fake Friends! Fake Love! Fake Life! Fake you and me! Fake!
Jetzt ist es durchgegangen mit mir, aber im Kaffeehaus tauchen dergleichen Ideen nun einmal ungebeten auf. Und Fragen wie jene: Haben wir uns unbemerkt längst angepasst an die digitale Revolution 4.0? Sind wir bereits marktfähig? Smarte VierPunkt-Nullen? Was wird übrig bleiben vom Leben nach dessen Kommerzialisierung, Digitalisierung? Nach dem Virtualisieren von Handschlagqualität? Der Auslagerung des Hausverstands in die Cloud?
Muße, Zeit, Gelassenheit – unrentabel? Dickkopf, Rückgrat, Augenzwinkern – bloß noch Thema für Robotik? Was macht uns aus im Kern? Spüren, kennen, hochschätzen wir uns noch? Überraschen wir uns noch mit kindlichem Witz und Sitzstreiks auf hoffnungslos verlorenen Posten? Oder sind wir davon schon erlöst, haben all das zukunftsfit hinter uns? Extrapolieren wir uns algorithmisch bereits erfolgreich ins Futurum?
Schachmatt, sagt eine zur andern Freundin am Nebentisch. Sie besprechen die letzten Züge, legen gemeinsam die Schachfiguren ins Holzkistchen zurück, sehen fröhlich aus dabei, wohl weil beide gewonnen haben irgendwie.
Im Kaffeehaus bekommen die Dinge wieder ihre Schwerkraft zurück, das Denken erlangt seine Muße. Ich lehne mich zurück, mein Herz schlägt analog. Mit der flachen Hand streiche ich über die Polstermöbel. Als Herr Staub die alten renovieren lassen wollte, erfuhr er, dass diese Muster längst aus der Mode waren, längst nicht mehr lieferbar. Also ließ er einen passenden Stoff beschaffen und das traditionelle Muster eigens nachweben.
Damit sich das Anwerfen der Maschinen und all die Arbeit für den Hersteller rentierten, musste eine Stoffbahn von nicht weniger als 300 Metern in Auftrag gegeben werden. Das war viel, sehr viel mehr als benötigt wurde. Nun, nach der Renovierung, erzählt Herr Staub, seien also Hunderte Meter übrig – schöner Stoff für viele weitere Kaffeehausgenerationen.
Das Kaffeehaus. Es ist real. Und freilich ist es auch eine Metapher. Vergleichbar vielleicht mit einem ausgedehnten Spaziergang in alten Alleen; dem zeitvergessenen Aufenthalt vor einem vielschichtigen, großformatigen Gemälde; oder dem sich Fallenlassen in Literatur.
Im Sperl indes beendet Herr Staub soeben den Spaziergang durch sein Cafe.´ Still hat er, manchmal bemerkt, manchmal unbemerkt, den Gästen zugelächelt, hat einer Dame dezent einen Sessel unterm Hintern zurechtgeschoben und Jugendlichen, die eben noch unwahrscheinlich cool waren, doch kurz darauf sympathisch verlegen, in vollendeter Höflichkeit mit Speisekarten ausgeholfen.
Nun nimmt er hinter der alten Sitzkassa Platz, dieser kuriosen, anderswo kaum noch zu findenden Kombination aus öffentlichem Büro, Schreibpult und Kanzel. Unmittelbar gegenüber befindet sich der Eingang. Soeben stürzt wieder ein Mensch herein, wie flüchtend, von draußen her. Q
Kaffeehaus? Welch ein Theater! Hier lässt sich Zuschauer und Darsteller sein, sensible Anna Karenina und durchgeknallter Don Quichotte.