Ein Jahrzehnt – aus Blei gemacht
Zu plakativ beschreibt Kirstin Breitenfellner in ihrem Roman „Bevor die Welt unterging“das Aufwachsen und die politische Bewusstwerdung in den 1980ern.
Was sonst trüge das, was das Untier ,Weltgeschichte‘ nennt, wenn nicht die Hoffnung auf die Katastrophe, den Untergang, das Auslöschen der Spuren.“In seinem 1983 erschienenen (und mehr denn je lesenswerten) Buch „Das Untier“propagiert der Literaturwissenschaftler Ulrich Horstmann die Selbstauslöschung des Menschen als letzten und einzig vernünftigen Zielpunkt menschheitsgeschichtlicher Entwicklung. Im Blick auf diese die Geschichte bestimmende „geheime Übereinkunft“zur Auslöschung alles Humanen sei es also ein zynischer Grund zur Freude, wenn die Menschheit mit atomarer Hochrüstung und Kaltem Krieg ihrer Selbstaufhebung um einige Schritte nähergekommen ist.
Die Möglichkeit einer solchen scheint die 1980er-Jahre geprägt zu haben. Folgt man Kirstin Breitenfellners Roman „Bevor die Welt unterging“, war sie für das Lebensgefühl der jungen Generation prägend. Deren Perspektiven, Ängste und Lebensstrategien zu vergegenwärtigen, ist Anliegen des Romans, der die Jahre von 1979 bis zum Fall der Berliner Mauer chronologisch nachvollzieht, vermittelt durch den Blick der in einer westdeutschen Kleinstadt aufwachsenden Protagonistin Judith. Schon der „Vorspiel“genannte Prolog führt vor, was Judiths Erwachsenwerden begleiten wird: Ozonloch und Waldsterben, Kalter Krieg und Tschernobyl, der Langzeitkanzler Kohl und der politische Hoffnungsträger Gorbatschow, zudem die Konfrontation mit dem Nachwirken der nationalsozialistischen Vergangen-
Kirstin Breitenfellner Bevor die Welt unterging Roman. 240 S., geb., € 22 (Picus Verlag, Wien) heit. „Das vor ihr liegende Jahrzehnt sollte aus Blei gemacht sein.“
Judiths Sozialisation verläuft zwischen den Polen der für eine Jugend der vergangenen Jahrzehnte typischen Muster (Emanzipation des Denkens, die Absetzbewegung von der Eltern, erste sexuelle Erfahrungen, Freundschaften und Verrat, Partys, Musik und die Sehnsucht nach Freiheit) und der zunehmend als virulent erlebten politischen und ökologischen Bedrohung. Das Innen und Außen vermischen sich, globale Machtverhältnisse schreiben sich bis ins Privateste hinein; als Teil der No-Future-Generation ist Judith gefordert, den Spagat zwischen dem Wunsch nach unbekümmertem Erwachsenwerden, den Ängsten vor einer wie immer gearteten Katastrophe und dem Willen zur Auseinandersetzung damit zu schaffen.
Judith wird ihn meistern, dafür sorgt die Autorin, wenn auch auf Kosten der Kons-
Qtruktion des Romans und seiner sprachlichen Gestaltung. Zu plakativ werden die Pole gesetzt, zu sehr bestimmt das Klischee den Roman. Lehrer sind entweder Altnazis oder haben lange Haare, „Jobs und Pensionen hatten sich verflüchtigt“und „Bald wollte der Wald sterben“. Möglich, dass solche Vordergründigkeit der jugendlichen Sichtweise und den Schlagwörtern der Zeit geschuldet ist, die auktoriale Erzählerin allerdings schreibt diese ungebrochen fort. Sie hat das Geschehen aus der Perspektive des Heute im Blick. Vom „Vorspiel“bis zum Epilog, dem auch noch ein Nachspann folgen muss, wird erklärt, wird gedeutet, werden Judiths Einsichten oder Irrtümer kommentiert: „Judith sollte erst später erfahren, dass . . .“/ „Noch wusste Judith nicht, dass . . .“
Die Ausblicke auf das „Danach“durchziehen das Buch mit einem Sentiment, das ihm nicht guttut. Und sie konterkarieren das Anliegen des Romans, einen Prozess des Erwachsenwerdens und der Einübung in politisches Denken nachzuvollziehen. Schade, dass die Autorin ihrer Figur (und der Fähigkeit von Lesern, ihre eigenen Schlüsse aus dem Erzählten zu ziehen) so wenig zu trauen scheint. Schade auch, dass der Verlag offensichtlich keinen Wert auf ein Lektorat legen wollte: Es hätten sich die nicht eben glücklich gewählte Erzählhaltung und die leider nicht singulären sprachlichen Ärgernisse („Die Tränen trieben einen Schauer über ihre Haut“/ „ein kaltes böses Lächeln schlich sich in ihre Augen“) vermeiden lassen.
Dennoch: Vor allem jugendlichen Leserinnen, die den Anforderungen der Gegenwart aktiv begegnen und sich darin bestärkt sehen wollen, ist der Roman zu empfehlen. Immerhin in seinem Insistieren darauf, dass jede junge Generation ein Anrecht auf Zukunft hat, folgen wir ihm gern.