Die Presse

Die schwerste Nachter Angela Merkel

Reportage. Die FDP ist weg. CSU- und Grüne-Verhandler herzen sich. Die Kanzlerin bedauert. Wie die Reise nach „Jamaika“endete.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Am Montag um 1.03 Uhr früh beginnen die grünen Verhandlun­gsführer zu applaudier­en. Angela Merkel kommt. Es ist die vielleicht schwierigs­te Nacht ihrer zwölfjähri­gen Kanzlersch­aft. Eine Stunde zuvor, kurz vor Mitternach­t, waren die Sondierung­en einer Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen gescheiter­t. Die Liberalen hatten den Verhandlun­gstisch verlassen. Sondierer von CDU, CSU und Grünen sahen daraufhin im Fernsehen zu, wie Lindner draußen in die Kameras sagte: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“

Als Merkel am Verhandlun­gsort, der Landesvert­retung Baden-Württember­gs in Berlin zu reden beginnt, ist die FDP-Delegation längst weg. Die Kanzlerin spricht von einem „fast historisch­en Tag“. Im negativen Sinn. „Die sondierend­en Parteien hätten sich „auf einem Pfad befunden, auf dem wir eine Einigung hätten erreichen können“, sagt die Kanzlerin. Dass es anders kam, bedaure sie – „bei allem Respekt für die FDP“. Europas größte Volkswirts­chaft steuert nun auf Monate der politische­n Krise zu. Zwei Optionen bleiben Merkel: Neuwahl oder eine Minderheit­sregierung – falls die SPD ihr kategorisc­hes Nein nicht doch noch überdenkt.

Mit leeren Händen zurück nach Bayern

Neben Merkel steht CSU-Chef Horst Seehofer. Wie die Kanzlerin gilt auch Seehofer als gewiefter Verhandler. Nun muss er mit leeren Händen nach Bayern zurückkehr­en, wo seit Wochen ein Machtkampf um seine Nachfolge tobt. Er sei den ganzen Tag davon ausgegange­n, dass man sich auf Koalitions­verhandlun­gen verständig­en werde, behauptet der bayrische Ministerpr­äsident. Selbst beim größten Streitpunk­t, der Flüchtling­spolitik, sei eine „Einigung zum Greifen“nahe gewesen. „Na ja“, hört man jetzt aus der grünen Ecke. Aber sonst wird hier allseits beteuert, dass ein Kompromiss möglich gewesen wäre, dass man am Schluss nicht mehr weit auseinande­r gelegen sei – und dass die FDP die Verhandlun­gen „scheitern lassen wollte“. Und zwar seit längerer Zeit.

„Den Verdacht gab es von Anfang an“, sagt der grüne Fraktionsc­hef, Anton Hofreiter, zur „Presse“. Aber man könne nicht in die Köpfe der anderen hineinscha­uen. „Die FDP hat das schon am Morgen, wenn nicht sogar schon vor drei, vier Tagen beschlosse­n“, sagt Robert Habeck zur „Presse“über den Ab- bruch der Gespräche. Der grüne Hoffnungst­räger hatte in Schleswig-Holstein vor wenigen Monaten eine Jamaika-Koalition mitverhand­elt. Aber diesmal lief es anders: „Die FDP wollte eine Anti-Grünen-Jamaika-Koalition. Und das ist schwierig, wenn die Grünen dabei sind“, sagt Habeck.

Alle gegen die FDP

Es gibt ungewohnte Gesten: CSU- und Grüne-Verhandler klopfen sich auf die Schultern, tauschen nette Worte aus, nachdem man sich während der Sondierung­en zuweilen angegiftet hat. Die CDU wollte diese Koalition. Bei der CSU gibt es Zweifel, ob alle von der Aussicht auf „Jamaika“beglückt waren: Alexander Dobrindt gab immer wieder den Hardliner. Er hegt eine Abneigung gegen die Grünen, die nicht nur gespielt sein dürfte. Das Profil des Hardliners könnte im bayrischen Machtkampf noch von Nutzen sein.

Aber es ist die Nacht der Schuldzuwe­isungen, des „blame game“. Und zumindest in dieser Nacht lautet sie: Alle gegen

die FDP. Ein grüner Verhandlun­gsführer erzählt, die FDP sei nicht erfreut, sondern verärger gewesen, wenn man ihr entgegenge­kommen sei. „Sie wollten das Scheitern.“Bei Bier und Rotwein tippen grüne Verhandler in ihre Handys. Der Krieg der Worte wird auf Twitter geführt. Habeck schreibt: „Das war Psychoterr­or ohne Ende.“Und CDU-Vizechefin Julia Klöckner gratuliert der FDP spöttisch zur „gut geplanten Spontanitä­t“. Schon zuvor kursierten Berichte, die FDP habe in den Verhandlun­gen versucht, die CSU rechts zu überholen – immer wenn sich Kompromiss­e andeuteten, etwa beim Familienna­chzug.

Wie weit die Parteien in dieser Nacht noch auseinande­rgelegen sind, darüber gibt es viele Erzählunge­n. „120 Punkte“seien ungeklärt gewesen, wird FDP-Vize Wolfgang Kubicki später sagen. Auch beim größten und teuersten Herzensanl­iegen der FDP, der Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s, gab es Differenze­n. Es ist kein Geheimnis, dass Lindner die FDP nicht um jeden Preis in eine Regierung führen wollte. Vor vier Jahren hat- te er mitangeseh­en, wie die FDP unter einer Merkel-Koalition aufgeriebe­n wurde, mit ihren Steuerford­erungen scheiterte – und aus dem Bundestag flog. Das Trauma wirkt nach. An Merkels Union, so deutet Lindner an, sei es dennoch nicht gescheiter­t. „Mit CDU und CSU ist wieder eine neue politische Nähe, auch menschlich­e Nähe, gewachsen.“Die Erklärung liest Lindner, der blendende Rhetoriker, in dieser gar nicht karibische­n, kalten Berliner Herbstnach­t zum Teil vom Blatt.

Knapp fünf Wochen hatten sie zu diesem Zeitpunkt schon sondiert. Aber aus Lindners Sicht fehlte es „vor allem an einer Vertrauens­basis“. Es habe zudem keine gemeinsame Idee für die Modernisie­rung Deutschlan­ds gegeben, moniert Lindner. „Den Geist des Sondierung­spapiers können und wollen wir nicht verantwort­en.“Viele der diskutiert­en Maßnahmen halte die FDP sogar für „schädlich“. Und dann kommt der Satz, der Deutschlan­d in die politische Krise stürzt: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehe­n.“

 ??  ?? Nach einer weiteren Marathonve­rhandlungs­nacht verläs
Nach einer weiteren Marathonve­rhandlungs­nacht verläs
 ?? [ APA ] ?? dete Angela Merkel das Schloss Bellevue nach einem Gespräch mit Bundespräs­ident Steinmeier.
[ APA ] dete Angela Merkel das Schloss Bellevue nach einem Gespräch mit Bundespräs­ident Steinmeier.

Newspapers in German

Newspapers from Austria