Die schwerste Nachter Angela Merkel
Reportage. Die FDP ist weg. CSU- und Grüne-Verhandler herzen sich. Die Kanzlerin bedauert. Wie die Reise nach „Jamaika“endete.
Berlin. Am Montag um 1.03 Uhr früh beginnen die grünen Verhandlungsführer zu applaudieren. Angela Merkel kommt. Es ist die vielleicht schwierigste Nacht ihrer zwölfjährigen Kanzlerschaft. Eine Stunde zuvor, kurz vor Mitternacht, waren die Sondierungen einer Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen gescheitert. Die Liberalen hatten den Verhandlungstisch verlassen. Sondierer von CDU, CSU und Grünen sahen daraufhin im Fernsehen zu, wie Lindner draußen in die Kameras sagte: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“
Als Merkel am Verhandlungsort, der Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin zu reden beginnt, ist die FDP-Delegation längst weg. Die Kanzlerin spricht von einem „fast historischen Tag“. Im negativen Sinn. „Die sondierenden Parteien hätten sich „auf einem Pfad befunden, auf dem wir eine Einigung hätten erreichen können“, sagt die Kanzlerin. Dass es anders kam, bedaure sie – „bei allem Respekt für die FDP“. Europas größte Volkswirtschaft steuert nun auf Monate der politischen Krise zu. Zwei Optionen bleiben Merkel: Neuwahl oder eine Minderheitsregierung – falls die SPD ihr kategorisches Nein nicht doch noch überdenkt.
Mit leeren Händen zurück nach Bayern
Neben Merkel steht CSU-Chef Horst Seehofer. Wie die Kanzlerin gilt auch Seehofer als gewiefter Verhandler. Nun muss er mit leeren Händen nach Bayern zurückkehren, wo seit Wochen ein Machtkampf um seine Nachfolge tobt. Er sei den ganzen Tag davon ausgegangen, dass man sich auf Koalitionsverhandlungen verständigen werde, behauptet der bayrische Ministerpräsident. Selbst beim größten Streitpunkt, der Flüchtlingspolitik, sei eine „Einigung zum Greifen“nahe gewesen. „Na ja“, hört man jetzt aus der grünen Ecke. Aber sonst wird hier allseits beteuert, dass ein Kompromiss möglich gewesen wäre, dass man am Schluss nicht mehr weit auseinander gelegen sei – und dass die FDP die Verhandlungen „scheitern lassen wollte“. Und zwar seit längerer Zeit.
„Den Verdacht gab es von Anfang an“, sagt der grüne Fraktionschef, Anton Hofreiter, zur „Presse“. Aber man könne nicht in die Köpfe der anderen hineinschauen. „Die FDP hat das schon am Morgen, wenn nicht sogar schon vor drei, vier Tagen beschlossen“, sagt Robert Habeck zur „Presse“über den Ab- bruch der Gespräche. Der grüne Hoffnungsträger hatte in Schleswig-Holstein vor wenigen Monaten eine Jamaika-Koalition mitverhandelt. Aber diesmal lief es anders: „Die FDP wollte eine Anti-Grünen-Jamaika-Koalition. Und das ist schwierig, wenn die Grünen dabei sind“, sagt Habeck.
Alle gegen die FDP
Es gibt ungewohnte Gesten: CSU- und Grüne-Verhandler klopfen sich auf die Schultern, tauschen nette Worte aus, nachdem man sich während der Sondierungen zuweilen angegiftet hat. Die CDU wollte diese Koalition. Bei der CSU gibt es Zweifel, ob alle von der Aussicht auf „Jamaika“beglückt waren: Alexander Dobrindt gab immer wieder den Hardliner. Er hegt eine Abneigung gegen die Grünen, die nicht nur gespielt sein dürfte. Das Profil des Hardliners könnte im bayrischen Machtkampf noch von Nutzen sein.
Aber es ist die Nacht der Schuldzuweisungen, des „blame game“. Und zumindest in dieser Nacht lautet sie: Alle gegen
die FDP. Ein grüner Verhandlungsführer erzählt, die FDP sei nicht erfreut, sondern verärger gewesen, wenn man ihr entgegengekommen sei. „Sie wollten das Scheitern.“Bei Bier und Rotwein tippen grüne Verhandler in ihre Handys. Der Krieg der Worte wird auf Twitter geführt. Habeck schreibt: „Das war Psychoterror ohne Ende.“Und CDU-Vizechefin Julia Klöckner gratuliert der FDP spöttisch zur „gut geplanten Spontanität“. Schon zuvor kursierten Berichte, die FDP habe in den Verhandlungen versucht, die CSU rechts zu überholen – immer wenn sich Kompromisse andeuteten, etwa beim Familiennachzug.
Wie weit die Parteien in dieser Nacht noch auseinandergelegen sind, darüber gibt es viele Erzählungen. „120 Punkte“seien ungeklärt gewesen, wird FDP-Vize Wolfgang Kubicki später sagen. Auch beim größten und teuersten Herzensanliegen der FDP, der Abschaffung des Solidaritätszuschlags, gab es Differenzen. Es ist kein Geheimnis, dass Lindner die FDP nicht um jeden Preis in eine Regierung führen wollte. Vor vier Jahren hat- te er mitangesehen, wie die FDP unter einer Merkel-Koalition aufgerieben wurde, mit ihren Steuerforderungen scheiterte – und aus dem Bundestag flog. Das Trauma wirkt nach. An Merkels Union, so deutet Lindner an, sei es dennoch nicht gescheitert. „Mit CDU und CSU ist wieder eine neue politische Nähe, auch menschliche Nähe, gewachsen.“Die Erklärung liest Lindner, der blendende Rhetoriker, in dieser gar nicht karibischen, kalten Berliner Herbstnacht zum Teil vom Blatt.
Knapp fünf Wochen hatten sie zu diesem Zeitpunkt schon sondiert. Aber aus Lindners Sicht fehlte es „vor allem an einer Vertrauensbasis“. Es habe zudem keine gemeinsame Idee für die Modernisierung Deutschlands gegeben, moniert Lindner. „Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht verantworten.“Viele der diskutierten Maßnahmen halte die FDP sogar für „schädlich“. Und dann kommt der Satz, der Deutschland in die politische Krise stürzt: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehen.“