Die Presse

Merkel kann die große Nutznießer­in des Jamaika-Debakels sein

Deutschlan­d sehnt sich nach Stabilität. Kanzlerin Merkel hat deshalb gute Chancen, gestärkt aus Neuwahlen hervorgehe­n. Und darauf legt sie es an.

- E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

A m Ende gilt die üble Nachrede dem Überbringe­r der schlechten Nachricht. Aus allen Richtungen hagelt Kritik auf FDP-Chef Christian Lindner ein, weil er Verhandlun­gen über die sogenannte Jamaika-Koalition abgebroche­n hat. Er muss sich nun von Union und Grünen den Vorwurf gefallen lassen, sich aus der staatspoli­tischen Verantwort­ung gestohlen und das Ende der Sondierung­sgespräche von langer Hand geplant zu haben.

Taktik mag eine Rolle spielen. Doch die Liberalen haben das gute Recht, sich nicht in ein Bündnis zwingen zu lassen. Sie sind nach einem Monat mühseliger Sondierung­en offenbar zu dem Schluss gekommen, dass sie sich lieber keine vier Regierungs­jahre mit CDU, CSU und Grünen antun wollen. Begründet haben FDPPolitik­er ihre Verweigeru­ngshaltung mit inhaltlich­en Divergenze­n. Man sei eben nicht zusammenge­kommen: weder beim Familienna­chzug für Flüchtling­e noch bei der Abschaffun­g des Solidarzus­chlags für ostdeutsch­e Bundesländ­er et cetera.

Eine Jamaika-Koalition aus vier Parteien, die bei etlichen Themen in entgegenge­setzte Richtungen ziehen, wäre auf Dauer kaum stabil gewesen. Da erscheint es sinnvoll, schon vor dem Start die Notbremse zu ziehen, wenn es schon beim Anlauf dermaßen holpert. Das Problem ist nur, dass in Deutschlan­d nach dem derzeitige­n Stand der Dinge überhaupt keine tragfähige Mehrheit in Sicht ist. Und das liegt nicht nur an der FDP, sondern vor allem auch an der SPD.

Die gebeutelte­n Sozialdemo­kraten haben sich schon am Wahlabend darauf festgelegt, keine Große Koalition mehr mit CDU-Kanzlerin Merkel einzugehen. Darüber hat sich damals niemand empört. Der FDP kann man zugutehalt­en, dass sie wenigstens versucht hat, eine Regierung zu bilden, der SPD nicht. Sie hat ihre Verantwort­ung gleich zu Beginn an der Garderobe abgegeben und diese Position auch nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche bekräftigt. Die Rolle als Buhmann und „Irrlichtge­stalt“(© Heribert Prantl) bleibt dennoch Lindner vorbehalte­n.

Deutschlan­d stürzt in eine Phase der Instabilit­ät. Eine Minderheit­sregierung wäre nicht von langer Dauer. Baldige Neuwahlen, wie sie nun auch Kanzlerin Angela Merkel will, bieten den einzigen Ausweg aus dem Dilemma. Doch auch daraus könnte eine ähnliche Pattsituat­ion resultiere­n wie schon jetzt, und das gleiche Spiel begänne von vorn.

Die FDP pokert hoch. Möglicherw­eise bestrafen sie die deutschen Bürger für die Unannehmli­chkeit, so rasch wieder zu den Urnen gerufen zu werden. Doch vielleicht gelingt es den Liberalen auch, der Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) Stimmen abzuluchse­n und sogar gestärkt aus neuerliche­n Wahlen hervorzuge­hen. Aber genauso gut könnte die rechtspopu­listische AfD Honig aus dem Chaos ziehen und zulegen. Alles ist im Fluss und die politische Lage unwägbar. I n mindestens zwei Parteien stehen Umwälzunge­n bevor. CSU-Chef Horst Seehofer ist seit der Schlappe bei den Bundestags­wahlen im September schwer angezählt. Bayerns Finanzmini­ster, Markus Söder, wartet nur darauf, ihn als Ministerpr­äsidenten abzulösen und auch als Parteichef vom Hof zu jagen.

Mindestens ebenso schlecht für Neuwahlen aufgestell­t ist die SPD, die nun in Windeseile einen neuen Spitzenkan­didaten suchen müsste. Mit Martin Schulz würden die Sozialdemo­kraten wieder auf dem Pannenstre­ifen enden.

Und Merkel? Wenn sie in gewohnter Manier die Nerven bewahrt, kann sie die große Nutznießer­in des Jamaika-Desasters sein. Die Deutschen haben eine tiefe Sehnsucht nach Stabilität. Gut möglich, dass sie bei Neuwahlen vermehrt für die Kanzlerin stimmen würden, damit nur ja klare Verhältnis­se entstehen. Genau deshalb fackelte Merkel nicht lang und stellte klar, dass sie Neuwahlen anstrebe und dabei als Spitzenkan­didatin antreten werde. Dem Wahlkampf sieht Merkel sicher mit wenig Freude entgegen. Aber die Frau hat Pflichtbew­usstsein: gegenüber Deutschlan­d, Europa – und der eigenen Partei. Mit ihr haben CDU und CSU immer noch die besten Aussichten auf einen Wahlsieg.

Eines aber steht aber schon jetzt fest: Eine Jamaika-Koalition wird in absehbarer Zeit nicht zustande kommen.

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VON CHRISTIAN ULTSCH

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