„Es ist eine sehr schlechte Nachricht für Europa“
Europapolitik. Ohne eine tatkräftige und kompromissbereite deutsche Regierung kann der EU-Reformfahrplan nicht eingehalten werden.
Brüssel/Wien. Es hätte das sein sollen, was man auf Neudeutsch als „Window of Opportunity“bezeichnet – ein günstiges zeitliches Fenster zur Umsetzung längst anstehender Reformvorhaben. Mit Emmanuel Macron im E´lyse´e-Palst und einer ins Bundeskanzleramt zurückgekehrten Angela Merkel würde das dynamische deutsch-französische Duo die erstarrte Unionspolitik aufmischen und neue Impulse setzen, lautete jedenfalls die in Brüsseler Couloirs artikulierte Erwartung. Mit dem Zusammenbruch der Jamaika-Koalitionsgespräche in der Nacht zum Montag hat sich diese Hoffnung zerschlagen.
Denn wie auch immer es in der deutschen Innenpolitik weitergehen mag – mit der Wiederauflage der Großen Koalition mit der SPD, Minderheitsregierung, Neuwahlen oder neuer Hoffnung für Jamaika –, eines steht jedenfalls fest: Merkel ist so oder so angezählt. Die Zauberkräfte der Langzeitkanzlerin hätten diesmal versagt, resümierte das Pariser Leitmedium „Le Monde“. Und das sei eine „sehr schlechte Nachricht für Europa“.
„Zuversichtlich für deutsche Stabilität“
Wie immer angesichts schlechter Nachrichten, war im Hauptquartier der EU-Kommission am gestrigen Montag betonte Coolness angesagt: „Wir sind zuversichtlich für die weitere Stabilität Deutschlands“, sagte ein Sprecher der Brüsseler Behörde, der nach den potenziellen Auswirkungen auf den politischen Fahrplan der Union gefragt wurde. Dieser Fahrplan ist relativ ehrgeizig getaktet.
Seit Jahresbeginn legt die Kommission Entwürfe für einen Umbau des gemeinsamen Hauses Europa vor – die Bandbreite der Überlegung reicht vom Rückzug auf einige quintessenzielle Aufgaben samt Wiederaufwertung der Nationalstaaten über eine EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bis hin zu weiteren Integrationsschritten. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass die europäischen Entscheidungsträger das kommende Jahr über die Zukunft beraten, damit rechtzeitig vor der Europawahl 2019 und der Neubesetzung der Spitzenposten in Kommission und Rat eine Blaupause für institutionelle Reformen vorliegt. Als wichtige Zwischenetappe eingeplant war dabei der kommende EU-Gipfel am 14./15. Dezember. Das Treffen dürfte nun von den innerdeutschen Querelen überschattet werden.
Dieser Zeitplan wäre aus zwei weiteren Gründen ausgesprochen günstig gewesen. Erstens: Ebenfalls im kommenden Jahr wird die EU über ihr Budget für den Zeitraum 2021 bis 2027 verhandeln – die Gespräche passen gut zu grundsätzlicheren Überlegungen darüber, welche Verantwortungen die EU in Zukunft schultern soll. Und zweitens: Im Jahr 2018 stehen mit Ausnahme der italienischen Parlamentswahl keine grenzüber- schreitend relevanten Wahlgänge an – in Brüssel wäre man also von der informellen Stillhaltepflicht entbunden und könnte mit vollem Elan an der Reformagenda arbeiten. Sollten die Deutschen wieder zu den Urnen gerufen werden, wäre der Traum vom ungestörten Arbeiten dahin – und mit einer arbeitsfähigen Regierung wäre vermutlich nicht vor dem Frühsommer 2018 zu rechnen.
Eine Alternative zum deutsch-französischen Tandem gibt es nicht: Von den EUGroßen ist Italien momentan ebenso mit sich selbst beschäftigt wie Spanien. Die Briten scheiden am 29. März 2019 aus der EU aus, und die in Warschau regierenden Nationalpopulisten hat sich Frankreichs Präsident Macron als leichtes Ziel ausgesucht, anhand dessen demonstriert werden kann, was in Europa alles schiefläuft – konkret geht es um den „illoyalen“Wettbewerb osteuropäischer Arbeitskräfte, sowie um die Strukturförderungen, die Richtung Osteuropa fließen. Frankreichs Vision ist ein Europa der konzentrischen Kreise, mit Berlin und Paris im Zentrum und Störenfrieden wie Polen und Ungarn an der äußersten Peripherie.
Aufgrund seiner Lage fällt Deutschland die Vermittlerrolle zwischen West und Ost zu – eine Rolle, die Berlin derzeit nicht übernehmen kann. Für Macron ist die Schwächung Deutschlands aber auch ein Problem. Denn im Kern seiner Reformvisionen steht eine politisch und finanziell aufgewertete Eurozone – und diese Aufwertung kann es ohne deutsches Zutun nicht geben. Die Begeisterung für neue Beiträge zu einem Eurobudget ist in Berlin enden wollend. Sollten die FDP und die rechtspopulistische AfD aus den möglichen Neuwahlen gestärkt hervorgehen, wäre das der Todesstoß für die französischen Reformwünsche – dieses Ergebnis wäre nämlich ein Signal dafür, dass die deutschen Wähler das Vorhaben nicht goutieren.
Dämpfer für Großbritannien
Wenig Grund zur Freude hat auch Großbritannien. Die regierenden Tories setzten in den Brexit-Verhandlungen bisher darauf, dass Deutschland aus ökonomischem Eigeninteresse die EU-Kommission zurückpfeifen und den Briten ein schmackhaftes Angebot mit möglichst uneingeschränktem Marktzugang machen wird. Nach aktuellem Stand der Dinge wird die Bundesrepublik auf absehbare Zeit mit sich selbst beschäftigt sein.
Das ist insofern problematisch, als das Abkommen über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen EU/Großbritannien bis spätestens Herbst 2018 ausverhandelt sein muss, damit es rechtzeitig vor dem Austrittstag vom Europaparlament und den 27 Unionsmitgliedern ratifiziert werden kann. Durch das Platzen der Jamaika-Gespräche hat sich auch das Brexit-Zeitfenster ein Stück geschlossen. (la)