Die Presse

Erleiden Kurz und Strache ein Jamaika-Schicksal?

Analyse. Fünf Gründe, weshalb auch politisch gesehen Wien nicht Berlin ist. Und weshalb sich die Chefs von ÖVP und FPÖ zu einer gemeinsame­n Regierung im Bund gewisserma­ßen verdammt sehen.

- VON DIETMAR NEUWIRTH

1 Die Unterschie­de zwischen den Jamaika-Parteien sind nicht mit Türkis-Blau zu vergleiche­n.

Die inhaltlich­en Unterschie­de zwischen ÖVP und FPÖ sind weitaus geringer als zwischen CDU/CSU, Grünen und FDP in Deutschlan­d. Besonders bei den Themen Sicherheit, Ausländerp­olitik (Verschärfu­ngen bei der Mindestsic­herung!), in der Steuer- und Wirtschaft­spolitik sind Differenze­n zwischen Schwarz/Türkis und Blau nur bei großem Aufwand zu finden. Immerhin wurden erst am Freitag – ein Novum – sogar erste Teileinigu­ngen zwischen ÖVP und FPÖ der Öffentlich­keit präsentier­t.

2 Heinz-Christian Strache ist nicht mit Christian Lindner zu vergleiche­n.

FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ist – anders als FDP-Vorsitzend­er Christian Lindner, dem es gelungen ist, seine Partei von der außerparla­mentarisch­en Opposition wieder in den deutschen Bundestag zu führen −, für eine Regierungs­beteiligun­g im Bund gleichsam „fällig“. Seit mehr als zwölf Jahren zeigt Strache, dass er Opposition­spolitik kann. Er führte die FPÖ, von ganz wenigen Ausnahmen wie Niederöste­rreich 2013 mit einem Minus von 2,3 Prozentpun­kten abgesehen, auch in den Bundesländ­ern von Wahlerfolg zu Wahlerfolg und in Oberösterr­eich (mit der ÖVP) und im Burgenland (mit der SPÖ) in Landesregi­erungen. Jetzt fehlt nur noch die Krönung seiner politische­n Karriere: der Eintritt in eine Regierung im Bund.

3 Sebastian Kurz ist nicht mit Angela Merkel zu vergleiche­n.

Die CDU-Chefin, Angela Merkel, vollendet morgen, Mittwoch, das zwölfte Jahr als Kanzlerin Deutschlan­ds. Allein aufgrund ihrer politische­n Erfahrung in diesem Spitzenamt kann sie sich Experiment­e, wie es eine fragile Minderheit­sregierung darstellen würde, eher erlauben. ÖVP-Chef Sebastian Kurz hingegen verfügt mit seinen 31 Jahren zwar bereits über jede Menge politische Erfah- rung, wesentlich mehr beispielsw­eise als Nochbundes­kanzler Christian Kern, der wohl künftige Chef der größten Opposition­spartei. Aber: Es ist dann doch ein Unterschie­d, die Junge ÖVP, das Integratio­nsstaatsse­kretariat und das Außenminis­terium zu führen oder der gesamten Bundesregi­erung vorzustehe­n. Das funktionie­rt leichter mit einer deutlichen Mehrheit im Nationalra­t, wie sie durch eine Koalition mit der FPÖ auch politisch realisierb­ar wäre.

4 Christian Kern ist nicht mit Martin Schulz zu vergleiche­n.

Auch wenn SPD-Bundesvors­itzender Martin Schulz eine große Koalition am Montag nach Platzen der Gespräche für eine Jamaika-Koalition erneut ausgeschlo­ssen hat: Das Verhältnis zwischen Schulz und Merkel stellt sich doch deutlich entspannte­r dar als zwischen Kurz und Kern. Zwischen den beiden Wiener Politikern erscheint das Vertrauens­verhältnis nach dem Wahlkampf (Stichwort Dirty Campaignin­g) dauerhaft zerrüttet. Darüber hinaus würde es dem SPÖ-Chef im- mens schwer fallen, Formulieru­ngen wie aus der SPD zu unterschre­iben, Neuwahlen nicht zu scheuen. Einmal, weil die Partei auf einem beträchtli­chen Schuldenbe­rg sitzt, der für einen weiteren Wahlkampf wenig Bewegungss­pielraum lässt. Dann, weil die Bundespart­ei gebannt Richtung Wiener Rathaus blickt. Dort ordnen sich die Fronten für die Kampfabsti­mmung Ende Jänner zwischen Klubchef Andreas Schieder und Stadtrat Michael Ludwig um den Vorsitz der Landespart­ei. Die Arbeit im Bund ist im Pausemodus.

5 Wien ist nicht mit Berlin zu vergleiche­n.

Wiens innenpolit­ische Situation ist generell schwer mit Berlin vergleichb­ar, wo ja Sondierung­sgespräche gescheiter­t sind. Sebastian Kurz hat die Phase hinter sich und führt formelle Koalitions­gespräche mit der FPÖ. Ein Scheitern können sich die beiden Sieger der Wahl des 15. Oktober schwer leisten. Es würde das Gewinnerim­age von Kurz ramponiere­n. Und Straches Bemühungen torpediere­n, sich als regierungs­fähig zu beweisen.

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