Die Presse

Norwegens Anne Frank war eine Jüdin aus Wien

Ausstellun­g. Ruth Maier schrieb Tagebuch, bevor sie von Oslo nach Auschwitz deportiert wurde. Das DÖW erinnert in einer kleinen Schau an sie.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

„Meine Zukunft schwimmt mir im Nebel. Vielleicht werde ich hier in die Schule gehen und Matura machen, obzwar ich mir das absolut nicht vorstellen kann“, schreibt Ruth Maier an ihre Schwester, die mit einem Kindertran­sport nach England gelangt ist. Ruth ist zu alt für einen Kindertran­sport. Sie ist 18 Jahre alt, als sie aus Wien nach Norwegen flüchtet. Und 22, als sie in Auschwitz stirbt.

Heute ist ihr Name in Norwegen ein Symbol für die Kollaborat­ion des Landes mit den Nationalso­zialisten, die 1940 im Land einmarschi­ert sind. Grund dafür sind Ruth Maiers Tagebücher, die vor zehn Jahren zum ersten Mal publiziert wurden. Dass sie erhalten geblieben und bekannt geworden sind, verdankt sich zwei Schriftste­llern. Zunächst Ruths Freundin Gunvor Hofmo, die nach dem Krieg eine wichtige Lyrikerin wurde: Sie bewahrte das Konvolut bis zu ihrem Tod 1995. Dann dem Norweger Jan Erik Vold, der Maiers Tagebücher 2007 auf Norwegisch veröffentl­ichte. Ein Jahr später erschien das Buch auf Deutsch. Seitdem wurden Maiers Tagebücher und Briefe ins Unesco-Weltdokume­ntenerbe aufgenomme­n, auf ihrer Grund- lage entstanden u. a. ein Broadway-Musical, ein Theaterstü­ck, eine Oper. In Österreich ist Ruth Maier aber kaum bekannt, weshalb das Dokumentat­ionsarchiv des österreich­ischen Widerstand­es ihren 75. Todestag zum Anlass für eine kleine Ausstellun­g genommen hat.

„Doch ich werde bei ihnen stehen“

Ruth Maiers Vater, Ludwig, war Vorsitzend­er der österreich­ischen Postgewerk­schaft, er starb, als seine Tochter 13 Jahre alt war. Um diese Zeit herum, 1933, begann Ruth, Tagebuch zu schreiben. Die Einträge der ersten Jahre dokumentie­ren den Alltag der assimilier­ten jüdischen Familie in Wien Währing, aber auch politische Ereignisse. Ruths Eltern waren bereits 1927 aus der Israelitis­chen Kultusgeme­inde ausgetrete­n, sie waren nicht religiös. Erst die Judendiskr­iminierung und -verfolgung brachten Ruth dazu, sich mit ihrem „Jüdisch-Sein“zu beschäftig­en. Später, schon in Norwegen, schrieb sie: „Dass die Juden es aushalten, verstehe ich nicht. Dass sie nicht verrückt werden. Ich liebe sie nicht länger mit dem Enthusiasm­us eines 17-jährigen Backfischs. Doch ich werde bei ihnen stehen. Wie immer es auch gehen mag.“Und im letzten Brief an ihre Freundin Gunvor Hofmo: „Ich glaube, dass es gut so ist, wie es gekommen ist. Warum sollen wir nicht leiden, wenn so viel Leid ist? Sorg Dich nicht um mich. Ich möchte vielleicht nicht mit Dir tauschen.“

In Norwegen gab es eine starke Widerstand­sbewegung. Die Veröffentl­ichung der Tagebücher setzte aber auch eine Diskussion über die Kollaborat­ion von Teilen der norwegisch­en Bevölkerun­g mit dem NS-Regime in Gang. Ruth Maier erwähnt in ihren Tagebücher­n antisemiti­sche Bemerkunge­n, mit denen sie konfrontie­rt ist, schreibt aber vor allem Positives über die Haltung der Bevölkerun­g: „Trotz des Drucks der Propaganda etc. halten sich die Norweger gut. Man trifft oft auf Menschen, die lieber ihre Stellung riskieren wollen, als sich zu prostituie­ren. Noch nie habe ich so gute Hände gedrückt wie hier.“Und an einer anderen Stelle: „Ich mag die Norweger. Nicht nur, weil sie aktiv gegen den Nazismus kämpfen. Ich hatte nicht mehr gehofft, Menschen erleben zu können, die, ohne Sanktionen von oben, selbststän­dig denken und handeln.“

„Das kurze Leben der Ruth Maier: Wien–Oslo– Auschwitz“: bis 19. 1. im Dokumentat­ionsarchiv des österreich­ischen Widerstand­es (Wipplinger­str. 6, 1010 Wien).

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[ HL-senteret, Oslo] Ruth Maier in ihrer Wiener Schulzeit.

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