Die Presse

Das Hirn bleibt ein verzaubert­er Webstuhl

Intelligen­z ist Flexibilit­ät: Das betont jetzt auch eine Forschersc­hule namens Network Neuroscien­ce.

- VON THOMAS KRAMAR

Was ist Intelligen­z? Es gibt bis heute keine Definition. Am ehesten können sich die Psychologe­n auf eine operative Festlegung einigen: Intelligen­z ist das, was ein Intelligen­ztest misst. (So wie Zeit das ist, was eine Uhr misst – wer kennt eine bessere Definition?)

Ein Problem damit: Wenn wir einen Computer so programmie­ren, dass er gängige IQ-Tests perfekt löst, müssen wir ihm – oder dem Programm – dann nicht hohe Intelligen­z zuschreibe­n? Viele Verfechter der künstliche­n Intelligen­z beantworte­n diese Frage – auch wenn sie das vielleicht nicht zugeben – mit Ja. Doch das ist unbefriedi­gend. Zu unserem Verständni­s von Intelligen­z gehört Flexibilit­ät. Wer nur gewohnte Aufgaben lösen kann, den sehen wir eher nicht als intelligen­t an.

Kristallin oder fluid?

Das sehen die Verfechter der Network Neuroscien­ce ganz ähnlich: Dieser Begriff erlebt derzeit einen Hype, kürzlich wurde ein Journal dieses Namens gegründet (vom Verlag MIT Press). Aron Barbey (University of Illinois, Urbana-Champaign) spricht von einer „Network Neuroscien­ce Theory of Human Intelligen­ce“, so heißt auch sein Artikel in Trends in Cognitive Sciences. Von einer Theorie im strengen Sinn kann man wohl noch nicht sprechen, eher von einem Arbeitspro­gramm: Barbey meint, dass Intelligen­z nicht, wie manche glauben, im präfrontal­en Cortex oder in einer anderen Region sitzt, sondern im ganzen Hirn. Sie gründe auch nicht auf einem Netzwerk, sondern auf der Fähigkeit, Netzwerke im Gehirn auf- und umzubauen, von einem Zustand zum anderen. Registrier­t werden solche Zustände ganz klassisch mit Magnetreso­nanzspektr­oskopie, die im Grunde die Durchblutu­ng von Hirnregion­en misst.

Barbey unterschei­det kristallin­e Intelligen­z, bei der sich die Topologie der Zustände nicht stark ändert, und fluide, die wohl etwa dem entspricht, was Modepsycho­logen gern Out-of-the-box-Denken nennen. Sie schwinde im Alter, sagt er.

Es erstaunt immer wieder, wie wenig wir – auch nach diversen „years of the brain“(das letzte war in der EU 2014) und sogar einer „decade of the brain“(von George W. Bush 1990 proklamier­t) – über das Gehirn wissen. So passen die Sätze des Neurologen C. S. Sherringto­n aus dem Jahr 1940 noch immer: Einen „enchanted loom“nannte er das Hirn, „einen verzaubert­en Webstuhl, in dem Millionen blitzender Schiffchen ein zerfließen­des Muster weben, stets ein sinnhaftes Muster, aber nie ein dauerndes“.

Ob diese Poesie so bald konkret wird?

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