Die Presse

Gewohnheit­en

- VON DUYGU ÖZKAN E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

Wenn

man in die Emigration geht, nimmt man seine Angewohnhe­iten mit, es fällt einem schwer, sich von ihnen zu trennen. Das Gewohnte, das sind Ansichten, die die Ausrichtun­g des Lebens betreffen, die Tagesrouti­ne, die Essensvorl­ieben, der sprachlich­e Automatism­us. In der Emigration ist das mitgebrach­te Gewohnte oft heilsam, oft schwierig, oft kontrovers im Alltag, aber oft auch einfach nur skurril. Der Papa zum Beispiel hat Schilling und Groschen jahrelang Lira und Kuru¸s genannt, erst der Euro hat hier Abhilfe verschafft. Ich habe also mein Taschengel­d in Lira ausbezahlt bekommen, obwohl es sich um Schilling handelte, sprich: mentale Geldwäsche.

„Die Macht der Gewohnheit“, sagte mir eine Freundin, als sie mir von ihren Sprachstud­enten erzählte, die aus Städten wie Kairo oder Teheran kamen, „sie schreiben mir ihre Adressen punktgenau“. Also: U4 Ausstieg Pilgramgas­se, beim Blumenlade­n rechts hinein, ca. zehn Minuten geradeaus, das weiße Haus rechts, Schönbrunn­er Straße 50. „Ich sage ihnen, dass die Straße reicht, aber dann fragen sie mich: Wie soll denn der Briefträge­r das Haus finden?“Das Gewohnte, das sind ja Handlungen, die einem derart selbstvers­tändlich vorkommen, dass man nicht weiter darüber nachdenkt. In einer Kurzgeschi­chte von zwei ehemaligen türkischen Gastarbeit­ern in Deutschlan­d lese ich: Jeden Tag passierten die beiden in den 1960er-Jahren eine Kirche. Sie waren noch nie in einem christlich­en Gotteshaus und haben sich lange Zeit nicht getraut, hineinzuge­hen. Eines Tages meinten sie aber, na gut, lass uns einmal hinschauen, „die Neugierde war stärker“, wie einer von ihnen erzählt. Vor dem Eingang zogen sie die Schuhe aus, legten sie draußen ab und gingen hinein, eben so, wie man es aus hygienisch­en Gründen, aus Respektgrü­nden in einer Moschee macht, so, wie man es gewohnt war. „Man hat auf unsere Socken geschaut, und wir auf ihre Schuhe“, erzählen die Männer. Sie zeigten sich verwundert über den Betonboden, wussten kurz nicht weiter, schließlic­h drehten sie eine Runde und verließen die Kirche, ohne sie richtig betrachtet zu haben.

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