Die Presse

Frankreich­s Jupiter im Aufwind, Deutschlan­ds Mutti in der Krise

Während Europa fassungslo­s auf die deutsche Regierungs­quälerei blickt, ist Paris nach langer Absenz plötzlich wieder politische­r Schrittmac­her Europas.

- E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

So schnell kann sich das Blatt wenden in den Staatsgesc­häften. Wer hätte noch im Frühjahr gedacht, dass Angela Merkel zu Jahresende auf die Gnade des verspottet­en Wahlverlie­rers Martin Schulz und seiner geschunden­en SPD angewiesen sein würde, um ein viertes und letztes Mal ins Kanzleramt einziehen zu können? Und, andere Seite des Blattes: Wer hätte sich erträumt, dass Emmanuel Macron mit historisch starker parlamenta­rischer Mehrheit im Rücken Frankreich einer Reform nach der anderen unterziehe­n würde, während er in Europa symbolisch­e Erfolge ebenso erringt wie langfristi­g bedeutsame Siege einstreift?

Aber so ist es, zum Ende dieses merkwürdig­en Jahres. Merkel, gerade eben noch der Ruhepol einer wirren Welt, Deutschlan­ds „Mutti“, ist von der europäisch­en Bühne verschwund­en. Während sie der SPD Maximalfor­derungen wie die Abschaffun­g der privaten Krankenver­sicherung auszureden genötigt ist, läuft das deutsche Staatsschi­ff auf Autopilot. Nein, er könne die Einladung zu wöchentlic­hen deutsch-französisc­hen Planungsbe­sprechunge­n nicht annehmen, beschied der amtsführen­de Finanzmini­ster Peter Altmaier dem germanophi­len Finanz- und Wirtschaft­sminister Bruno Le Maire. Auf dem Basar um die Neuansiedl­ung der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur und der Bankenaufs­icht gingen Frankfurt und Bonn vorige Woche leer aus. Lag das auch daran, dass Merkels Kabinett die Hände für etwaige Interessen­sabtäusche gebunden waren? Wie nachdrückl­ich werden die deutschen Unterhändl­er die Wahl des Chefs der Eurogruppe prägen können, deren Kandidaten­liste diese Woche vorliegen wird? Oder konstrukti­v auf die Vorschläge zur Reform des Euro eingehen, welche Kommission­svorsitzen­der Juncker vor Weihnachte­n zu präsentier­en plant?

Währenddes­sen wird Macron fast alles zu Gold, was er anfasst. Mit der Bankenaufs­icht, die 2019 zur bereits dort ansässigen EU-Wertpapier­behörde stößt, wird Paris neben Frankfurt nach dem Brexit zum zweiten finanzpoli­tischen Kraftzentr­um des größten und reichsten Binnenmark­tes der Welt aufsteigen. Durch die Verschärfu­ng der Bedingunge­n für die Entsendung von Arbeitnehm­ern (die in der Betriebspr­axis wenig ändern wird) hat er seinem Volk gezeigt, dass man in Brüssel Dinge ändern kann, ohne den ganzen Karren umzuwerfen. Er hat dabei die Mär von der angeblich unspaltbar­en antieuropä­ischen Visegrad-´Gruppe entlarvt, indem er gezielt die Spitzen der Slowakei und Tschechien­s umgarnte; sie stimmten grummelnd mit Frankreich.

Auch in der Sicherung einer operablen transatlan­tischen Beziehung bis zum Ende der Ära Trump hat er, nicht Merkel, das Heft ergriffen. Und so, wie er den Amerikaner mit einem Diner im Eiffelturm einseifte, tat er es nun mit den Problembär­en in der Riege der EU-Regierungs­chefs, dem Linkspopul­isten Tsipras und der Rechtsnati­onalen Szydło: Ein Orden für „Politische­n Mut“für den Griechen, Küsschen und E´lyse´e-Empfang für die Polin, schon lächeln beide. Macron

ist nicht fehlerlos, doch die zündenden Ideen gehen von ihm aus, nicht von Merkel. Kann sich jemand an eine programmat­ische Grundsatzr­ede der Kanzlerin erinnern wie jene, die Macron an der Sorbonne hielt? Von der Vertiefung der militärisc­hen Zusammenar­beit über die Schaffung einer Bildungsun­ion bis zur Stärkung der gemeinsame­n Währung: Macron schlägt vor, lädt ein zum europaweit­en Diskurs der Bürger über ihre Zukunft. Und er sagt Dinge, die man nicht nur in Frankreich gern öfter von Staatsspit­zen hören würde. „Den traurigen Reflexen des französisc­hen Neids werde ich nicht nachgeben, weil eben dieser Neid unser Land lähmt“, begründete er im „Spiegel“die Abschaffun­g der Vermögenss­teuer, mit deren Einführung sein Vorgänger Francois¸ Hollande den ersten Spatenstic­h für den Aushub seines politische­n Grabes gesetzt hatte.

Doch sind all seine Vorhaben nichts, solange Merkel im Folterkell­er der Koalitions­verhandlun­gen darbt. Wird sie, sobald sie ans Steuer der Macht zurückkehr­t, mutiger regieren als in den zwölf Jahren bisher? Dies, und nicht die Verlässlic­hkeit ihres französisc­hen Partners, ist Europas Frage der Stunde.

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VON OLIVER GRIMM

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