Im dunklen Fleck von Istanbul: Bilder eines „schändlichen Viertels“
Ausstellung. Der Fotograf Ali Öz hat das Leben in der als gefährlich geltenden Gegend Tarlaba¸sı dokumentiert. Das historische Viertel gibt es nicht mehr.
Ein Stadtviertel, als hätte es ein Kind wahllos angeordnet. Schiefe Gebäude erschienen durch die hügelige Straße noch schiefer, andere Häuser hatten Zubauten, die völlig deplatziert wirkten, irgendwo dazwischen lag überraschenderweise ein geräumiger Platz. In den dunklen Häuserschluchten hing zwischen den Fassaden bunte Frischwäsche, man erinnerte sich an alte, italienische Filme. Die Substanz der Gebäude bröckelte dahin, die Menschen, die diese Straßen bevölkerten, waren Besucher von draußen, unbekannte Gesichter nicht gewöhnt. Dabei war das Draußen nur einige Straßen weiter, das Zentrum des europäischen Teils von Istanbul, namentlich der Taksim-Platz. Nur ein paar Minuten Fußweg trennte den lebendigen Stadtkern vom „verbotenen Viertel“Tarlabası¸ mit seinen porösen Häusern und armen Einwohnern.
Tarlabası¸ befindet sich heute freilich immer noch dort, aber es ist nicht mehr das alte, anstößige Viertel. „Die schändliche Stadt“, so hat Fotograf Ali Öz seine Bilderreihe zu Tarlabası¸ genannt, keineswegs, weil er die Einwohner als schändlich bezeichnen wollte, sondern eher die türkische Politik, die mit diesem historischen, verruchten, wilden und schwermütigen Viertel Tabula rasa gemacht hat. Ganze Häuserreihen und historische Gebäude, in denen zu osmanischer Zeit Armenier, Griechen und Juden, viel später dann Kurden und Roma gelebt haben, sind niedergerissen worden. Bagger, Schutt und Asche prägen das heutige Bild des Viertels, es soll nach dem Willen der Stadtregierung ein komplett neues, modernes Tarlabası¸ entstehen. „Die Regierung“, sagt Öz, „sieht alles aus ökonomischer Perspektive. Die Geschichte, die Menschen haben da keinen Wert.“
Bereits Anfang der 2000er-Jahre hat die Stadtverwaltung von einem neuen Tarlabası¸ geträumt, um diesen dunklen Fleck mitten aus Istanbul zu entfernen. Seitdem hat Öz dieses zerrissene Viertel dokumentiert, um die Geschichte, den Wert dieser Straßen für die Nachwelt festzuhalten. Seine Fotografien sind seit vergangener Woche in der Wiener Galerie Mekanˆ 68 zu sehen. Es sind Momentaufnahmen von bunten Roma-Hochzeiten, von Transvestiten, von Kindern, die auf dem Gehsteig schlafen. Es sind Einblicke in den Gottesdienst der örtlichen syrisch-orthodoxen Kirche, es sind melancholische Gesichter und bis zur Unkenntlichkeit abgenutzte Wohnhäuser. Es sind Aufnahmen von einem Tarlabası,¸ das es so nicht mehr gibt.
„Dienst an der Gesellschaft“
Ali Öz hat in den 1980ern selbst in Tarlabası¸ gewohnt, erzählt er, und ist als Fotojournalist immer wieder hierhergekommen. Er hat hier die studentischen Unruhen der 1970er-Jahre festgehalten, das Leben der Heroinsüchtigen in den 1990er-Jahren, später die Lebensumstände der migrierten Kurden. Jahrelang war Öz Tag und Nacht in Tarlabası¸ unterwegs, wiewohl er an- fangs Schwierigkeiten hatte, akzeptiert zu werden. „Sie haben sich an mich gewöhnt“, sagt er, „wie bei jemandem, der 40-mal an einer Tür klopft. Irgendwann lässt man ihn rein.“Die Jungen von Tarlabası¸ haben ihr Hemd gerichtet, wenn sie Öz schon von Weitem sahen, andere haben ihm Graffitinachrichten an Wänden hinterlassen. Über die Verbreitung seiner Bilder in sozialen Medien hat Öz das „verbotene Viertel“für die Istanbuler zugänglich gemacht, sagt er. Und er erzählt, nie ein Geschwätziger gewesen zu sein, seine Sicht der Dinge, seine Beobachtungen gebe er lieber in Wort und Bild wieder.
Der 65-Jährige hat Journalismus studiert und war lange Jahre für verschiedene Medien tätig. Die aktuelle, prekäre Medienlandschaft in der Türkei sieht er äußerst kritisch, aber auch als einen Grund, Dokumentationen wie Tarlabası¸ mit Nachdruck weiterzuführen. „Ich verstehe den Journalismus als Dienst an der Gesellschaft“, sagt er. Und: „Richtiger Journalismus ist in meinem Land derzeit nicht möglich.“Seine Kamera sehe er als Waffe, sagt Öz noch, der für seine Ausstellungseröffnung nach Wien kam. Keine Waffe, die tötet, aber eine, die verteidigen kann. Und für Tarlabası¸ ist es immerhin eine posthume Verteidigung.