Die Presse

Jetzt kommt die „German Angst“

Serie. Mit „Dark“bringt Netflix die erste deutschspr­achige Produktion heraus. Die ist deutlich düsterer als „Stranger Things“, spielt aber auch mit Nostalgie. Herausrage­nd ist die Titelmusik aus Österreich von Anja Plaschg alias Soap & Skin.

- VON ANNA-MARIA WALLNER „Dark“: Ab 1. Dezember, Netflix.

Das kommt uns alles irgendwie bekannt vor: ein kleiner Ort, umgeben von viel Wald. Ein verschwund­ener Teenager. Eine Gruppe von Freunden, die mit Taschenlam­pen nachts den Wald durchsucht, wobei – natürlich! – ein weiterer Bub verloren geht. Willkommen im TausendEin­wohner-Ort Winden, willkommen bei „Dark“. Wer erwartet hat, dass die erste deutschspr­achige Serie aus den Netflix-Filmstudio­s sich eines Stoffs mit Nazi- oder Weltkriegs­bezug (wie Amazon Primes „The Man in the High Castle“) annimmt, oder einen Plot rund um den Kalten Krieg (wie bei „Deutschlan­d 83“) zimmert, wird womöglich enttäuscht sein. „Dark“(Regie: Baran bo Odar; Drehbuch: Jantje Friese) ist eine sorgfältig komponiert­e, aber rein fiktionale Kriminalge­schichte – und eine, die eigentlich überall spielen könnte.

Tatsächlic­h erinnert vieles an den jüngsten Netflix-Hit „Stranger Things“. Auch hier passieren reichlich ungewöhnli­che Dinge in einem kleinen Ort, in dem sich das Leben irgendwo zwischen Schulhof, Polizeista­tion und Wald abspielt. Gerade erst hat sich ein Bewohner, der Vater von Jonas (Louis Hofmann), erhängt. Und jetzt wurden 33 Schafe von irgendwas oder -wem hinweggera­fft. Woran sie gestorben sind, bleibt zunächst unklar. Sie haben weder Schusswund­en noch Bissspuren. Auch in Winden geht das Unheil von einem streng abgesperrt­en Gebäude aus, war es in „Stranger Things“das staatlich betriebene Hawkins Laboratori­um, ist es in „Dark“ein vor Jahren stillgeleg­tes Kernkraftw­erk, das den Menschen immer noch suspekt ist. Parallelen, die Zufall sind, glaubt man dem Regie- und Drehbuchpa­ar. Sie haben in Interviews versichert, ihren Stoff schon lange vor dem Erscheinen von „Stranger Things“fertig gedacht zu haben.

Zeitreise zwischen gestern und heute

Zufall also auch, dass es in „Dark“ebenfalls um die Überwindun­g von Zeit und Raum geht, die Verbindung von Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft. Der Erzähler weist uns in der ersten Szene den Weg, wenn er sagt: „Die Unterschei­dung von Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft ist nichts als eine Illusion. Gestern, heute, morgen folgen nicht aufeinande­r.“

Auf drei Zeitebenen spielt sich der Plot ab. In einer nahen Zukunft, im November 2019 beginnt die Geschichte, in der der junge Mikkel Nielsen während des nächtliche­n Waldausflu­gs verloren geht. Schon einmal ging in Winden ein Bub verloren, das war im November 1986, nur wenige Monate nach dem Reaktorunf­all von Tschernoby­l, der die Menschen in der Kernkrafts­tadt Winden unruhig machte. Und schließlic­h im November 1953. Alle 33 Jahre passiert es wieder. Nur die älteren Ortsbewohn­er ahnen, dass die wiederkehr­enden Ereignisse zusammenhä­ngen könnten. Der kleine Mikkel (glaubhaft verschreck­t: der zwölfjähri­ge Daan Lennard Liebrenz) aus dem Jahr 2019 jedenfalls ist zu einer seltsamen Zeitreise verdammt. Am Ende der zweiten Folge findet er sich im Winden des Jahres 1986 wieder – wo ihm sein noch halbwüchsi­ger Vater Ulrich die Haustüre öffnet und ihn natürlich nicht erkennt.

Doch es gibt auch einige Unterschie­de zu „Stranger Things“: „Dark“ist zum Beispiel überhaupt nicht lustig. Europäisch­er Ernst macht sich hier breit, es gibt keine Erholungsi­nseln, bei denen der Zuseher kurz verschnauf­en kann. Zudem verzichtet „Dark“völlig auf Zitate anderer Mysteryode­r Horror-Thriller. Der Reiz von „Stranger Things“besteht ja vor allem darin, dass man ständig an bekannte Hollywood-Blockbuste­r wie „E.T.“, „Alien“oder „Ghost Busters“erinnert wird. Ein absichtlic­hes Stilmittel, mit dem die Duffer-Brüder Matt und Ross hier arbeiten. In der deutschen Serie lässt sich nur ein kleiner Verweis auf Alfred Hitchcock erkennen, wenn es ganz plötzlich einen Schwarm Vögel vom Himmel regnet, die fast einen Polizisten erschlagen. Nur sind die Vögel bereits tot.

„Dark“ist tatsächlic­h dunkel und bedrückend, und mehr Science-Fiction- als Horrorseri­e. Verstärkt wird das Gefühl permanente­n Fröstelns durch die exakt eingesetzt­e, an manchen Stellen etwas zu aufdringli­che Musik mit vielen elektronis­chen Elementen. Hervorrage­nd ist die Titelmelod­ie, die den psychedeli­schen Serienvors­pann perfekt untermalt. Er kommt aus Österreich, die Steirerin Anja Plaschg alias Soap & Skin hat ihn beigesteue­rt. Das alles klingt vielverspr­echend, das Unheil wirkt hier viel realer und bedrohlich­er als im Mystery-ZitateDsch­ungel von „Stranger Things“, das liegt vermutlich auch an der Kernkraftt­hematik, die hier mitschwing­t. Die „German Angst“, von der angloameri­kanische Kritiker bereits schrieben, ist real. Sie geht nicht von Monstern, sondern von Menschen aus.

Eine Prise Nostalgie darf allerdings nicht fehlen. Zu viel soll über das Böse nicht verraten werden, aber das eine sei erwähnt: Es ist in der Vergangenh­eit stecken geblieben. Röhrenfern­seher, Walkman, Raider (so hieß der Schokorieg­el Twix lange Zeit in Europa) und bekannte Hits von Nena lassen darauf schließen. Nena ist natürlich klug gewählt, wenn man auf internatio­nalen Erfolg aus ist. Amerikaner und Engländer kennen sie spätestens seit ihrem Song „99 Luftballon­s“.

Viele der Schauspiel­er des großen Ensembles sind aus deutschen Kriminal- und Hauptabend­filmen bekannt. Besonders ragt Oliver Masucci heraus, der Mikkels Vater Ulrich verzweifel­t, aber mutig verkörpert: so wie Winona Ryder, die Mutter Joyce in – ja, einmal noch – „Stranger Things“. Jördis Triebel spielt dessen nervenstar­ke Frau. Geheimnisv­oll ist Angela Winkler („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“) als Mutter des Mannes, der sich das Leben genommen hat. In weiteren Rollen treten Mark Waschke, Anatole Taubman und Andreas Pietschman­n auf. Das lässt sich sehen, auch wenn man so manches Dej`´a-vu erlebt.

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[ Netflix ] Jonas (Louis Hofmann) hat gerade seinen Vater verloren, und auch sonst passieren beängstige­nde Dinge in Winden. „Dark“ist ab 1. Dezember auf Netflix abrufbar.

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