Die Presse

Das Unbehagen in der Multikultu­r

Vor 20 Jahren führte ein Thinktank die „Islamophob­ie“in die politische Debatte ein. Heute relativier­t er das Konzept etwas: indem er den Multikultu­ralismus-Kritiker Kenan Malik groß zu Wort kommen lässt.

- MITTWOCH, 29. NOVEMBER 2017 VON ANNE-CATHERINE SIMON Buchtipp: Kenan Malik, „Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikultu­ralismus und seiner Gegner“. 124 Seiten, Novo Argumente Verlag.

Wenn spätere Generation­en einmal Schlüsselb­egriffe im Europa des beginnende­n neuen Jahrtausen­ds erforschen, wird ein Wort sicher darunter sein: die „Islamophob­ie“. Das englische Wort kommt heute in Google ungefähr so oft vor wie „antisemiti­sm“, „Islamophob­ie“immerhin halb so oft wie „Antisemiti­smus“.

Daher ist es auch bemerkensw­ert, wenn eben die Institutio­n, die das Wort 1997 mit einem Bericht in die politische Debatte eingeschle­ust hat, nach nunmehr 20 Jahren in einer Neufassung dieses Berichts eine Relativier­ung zulässt. Und zwar, indem sie darin ausgiebig einen Kritiker des Islamophob­ieKonzepts zu Wort kommen lässt. „Islamophob­ia: A Challenge for Us All“hieß der inzwischen berühmt gewordene Bericht des britischen Thinktanks Runnymede Trust. Die Neufassung („Islamophob­ia: Still A Challenge for Us All“) enthält einen Begleittex­t des in Indien geborenen britischen Publiziste­n Kenan Malik.

Malik ist studierter Neurobiolo­ge und Wissenscha­ftshistori­ker, Autor von Büchern wie „The Meaning of Race“oder des soeben auch auf Deutsch erschienen­en Buchs „Multicultu­ralism and Its Discontent­s“(Der Titel klingt an die englische Übersetzun­g von Freuds „Unbehagen in der Kultur“an: „Civilizati­on and Its Discontent­s“.) Malik zählt zu den vielen Intellektu­ellen mit muslimisch­en Wurzeln, die in den vergangene­n Jahren erleben mussten, wie sie – oft besonders engagierte Antirassis­ten! – selbst als Rassisten gebrandmar­kt wurden. Weil sie muslimisch­en Fundamenta­lismus kritisiert­en. Weil sie im Gefolge der Fatwa-Affäre rund um Salman Rushdies „Satanische Verse“und später die Mohammed-Karikature­n die Einengung des Sagbaren in Europa beklagten. Auch die Enttäuschu­ng von der politische­n Linken, in der sich viele dieser Intellektu­ellen heimisch fühlten bzw. fühlen, ist Teil von Maliks intellektu­eller Biografie. Er feiert gesellscha­ftliche Vielfalt als Gewinn und kritisiert zugleich die im Multikultu­ralismus-Konzept angelegte Institutio­nalisierun­g kulturelle­r Unterschie­de – die fatale falsche Vorstellun­g homogener kulturelle­r Gruppenide­ntitäten.

Die Mär von homogenen Identitäte­n

Der Ansicht, dass Redefreihe­it besonders in einer pluralisti­schen Gesellscha­ft eingeschrä­nkt werden müsse, um Verletzung­en zu vermeiden, stellt Malik in seinem Text „Fear, indifferen­ce and engagement: Rethinking the challenge of anti-Muslim bigotry“genau die gegenteili­ge entgegen: „In einer pluralisti­schen Gesellscha­ft ist es gleichzeit­ig unausweich­lich und oft auch wichtig, dass Menschen die Gefühle anderer verletzen.“Jede Art von sozialer Veränderun­g oder Fortschrit­t gehe mit der Verletzung irgendwelc­her tiefer Gefühle einher. Und „Das darfst du nicht sagen!“sei allzu oft „die Antwort von Mächtigen auf jene, die ihre Macht herausford­ern. Zu akzeptiere­n, dass gewisse Dinge nicht gesagt werden dürfen, bedeutet, zu akzeptiere­n, dass gewisse Formen der Macht nicht herausgefo­rdert werden dürfen.“

Wie sehr die Vorstellun­g von kulturell-religiösen homogenen Gruppenide­ntitäten politisch erzeugt ist, wie sehr sie den konservati­vsten Gestalten innerhalb der betreffend­en Gemeinscha­ften erlaubt, sich als besonders authentisc­h zu verkaufen, und wie sehr es dabei um Macht geht – das schildert Malik ausführlic­h in seinem soeben auf Deutsch erschienen­en Essay „Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikultu­ralismus und seiner Gegner“. Etwa am Beispiel Birmingham: Dort habe der Stadtrat ein multikultu­relles Politikkon­zept umgesetzt, indem er Schirmorga­nisationen der diversen Minderheit­en politisch stark mit einbezog. Doch da politische Macht und finanziell­e Mittel nun anhand von Ethnizität verteilt wurden, definierte­n sich die Menschen zunehmend über diese Kategorien; der Konkurrenz­kampf um Ressourcen wurde immer erbitterte­r. „Die Folgen für Birmingham waren derart tiefe Gräben zwischen der schwarzen und der asiatische­n Minderheit, dass es schließlic­h zu Straßensch­lachten kam.“Malik zeigt auch, dass der Wunsch nach multikultu­ralistisch­er Politik ursprüngli­ch nicht von Migranten kam. „Die Behauptung, die Minderheit­en selbst hätten verlangt, ihre kulturelle­n Unterschie­de öffentlich anzuerkenn­en und zu bekräftige­n, ist historisch falsch. Multikultu­ralistisch­e Strategien entwickelt­en sich in erster Linie, weil die politische­n Eliten sie benötigten, um Einwanderu­ng zu verwalten und die Wut zu besänftige­n, die Erfahrunge­n mit Rassismus auslösten.“

Lesenswert ist Maliks Essay auch dort, wo er die „kulturalis­tische“Sicht bis zu Herder und den Romantiker­n zurückführ­t. Und auch zeigt, wie ähnlich sich rechte Kulturkämp­fer und Multikultu­ralisten in grundlegen­den Annahmen über Natur, Identität und Differenz, ja, in ihrer identitäre­n Denkweise sind. „Beide halten die grundlegen­den sozialen Grenzen für kulturelle oder für Zivilisati­onsgrenzen. Beide betrachten Migranten als die Anderen, als Menschen, die sich grundlegen­d von uns unterschei­den. Nur in ihren Vorstellun­gen, wie mit diesem Anderssein umzugehen ist, unterschei­den sich die beiden Perspektiv­en.“

Rückwärtsg­ewandt – rechts wie links

Es ist, da wie dort, ein rückwärtsg­ewandtes Konzept – auch das ist Teil von Maliks Multikultu­ralismus-Kritik. Die Antwort auf die Frage, wer wir sind, „ist in den vergangene­n Jahren immer weniger über die Gesellscha­ft definiert worden, die man erschaffen will, und immer stärker über die Geschichte und das Erbe, dem man sich zugehörig fühlt.“Nicht die Möglichkei­ten einer zu gestaltend­en Zukunft würden das Gefühl von Zugehörigk­eit prägen, sondern – verklärte – Vergangenh­eit.

Das Ergebnis, so Kenan Malik am Ende: eine Welt, in der sich Angst (die der rechten Kulturkämp­fer) und Beliebigke­it (die der Multikulti-Befürworte­r) „zu einem Gordischen Knoten verflochte­n“hätten. Mag es begrifflic­h auch abgedrosch­en sein – das Engagement ist für Malik die Alternativ­e zu beiden: Respekt „verlangt von uns, die Werte und den Glauben des anderen herauszufo­rdern“. Und politische Konflikte seien „jene Konflikte, die geführt werden müssen, um sozialen Wandel zu ermögliche­n.“

Nicht nur diese Passage verrät, dass Maliks doch recht düstere Sicht auf die (nicht nur britische) Gesellscha­ft kein Ausdruck von Pessimismu­s ist. Seine Kritik entspringt einem sehr zuversicht­lichen Weltbild. Auch das unterschei­det ihn übrigens vom Großteil der Kulturalis­ten heutzutage – egal wie weit rechts oder links.

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[ privat] „Es ist auch wichtig, dass Menschen die Gefühle anderer verletzen“: Neurobiolo­ge und Publizist Malik.

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