Das Unbehagen in der Multikultur
Vor 20 Jahren führte ein Thinktank die „Islamophobie“in die politische Debatte ein. Heute relativiert er das Konzept etwas: indem er den Multikulturalismus-Kritiker Kenan Malik groß zu Wort kommen lässt.
Wenn spätere Generationen einmal Schlüsselbegriffe im Europa des beginnenden neuen Jahrtausends erforschen, wird ein Wort sicher darunter sein: die „Islamophobie“. Das englische Wort kommt heute in Google ungefähr so oft vor wie „antisemitism“, „Islamophobie“immerhin halb so oft wie „Antisemitismus“.
Daher ist es auch bemerkenswert, wenn eben die Institution, die das Wort 1997 mit einem Bericht in die politische Debatte eingeschleust hat, nach nunmehr 20 Jahren in einer Neufassung dieses Berichts eine Relativierung zulässt. Und zwar, indem sie darin ausgiebig einen Kritiker des IslamophobieKonzepts zu Wort kommen lässt. „Islamophobia: A Challenge for Us All“hieß der inzwischen berühmt gewordene Bericht des britischen Thinktanks Runnymede Trust. Die Neufassung („Islamophobia: Still A Challenge for Us All“) enthält einen Begleittext des in Indien geborenen britischen Publizisten Kenan Malik.
Malik ist studierter Neurobiologe und Wissenschaftshistoriker, Autor von Büchern wie „The Meaning of Race“oder des soeben auch auf Deutsch erschienenen Buchs „Multiculturalism and Its Discontents“(Der Titel klingt an die englische Übersetzung von Freuds „Unbehagen in der Kultur“an: „Civilization and Its Discontents“.) Malik zählt zu den vielen Intellektuellen mit muslimischen Wurzeln, die in den vergangenen Jahren erleben mussten, wie sie – oft besonders engagierte Antirassisten! – selbst als Rassisten gebrandmarkt wurden. Weil sie muslimischen Fundamentalismus kritisierten. Weil sie im Gefolge der Fatwa-Affäre rund um Salman Rushdies „Satanische Verse“und später die Mohammed-Karikaturen die Einengung des Sagbaren in Europa beklagten. Auch die Enttäuschung von der politischen Linken, in der sich viele dieser Intellektuellen heimisch fühlten bzw. fühlen, ist Teil von Maliks intellektueller Biografie. Er feiert gesellschaftliche Vielfalt als Gewinn und kritisiert zugleich die im Multikulturalismus-Konzept angelegte Institutionalisierung kultureller Unterschiede – die fatale falsche Vorstellung homogener kultureller Gruppenidentitäten.
Die Mär von homogenen Identitäten
Der Ansicht, dass Redefreiheit besonders in einer pluralistischen Gesellschaft eingeschränkt werden müsse, um Verletzungen zu vermeiden, stellt Malik in seinem Text „Fear, indifference and engagement: Rethinking the challenge of anti-Muslim bigotry“genau die gegenteilige entgegen: „In einer pluralistischen Gesellschaft ist es gleichzeitig unausweichlich und oft auch wichtig, dass Menschen die Gefühle anderer verletzen.“Jede Art von sozialer Veränderung oder Fortschritt gehe mit der Verletzung irgendwelcher tiefer Gefühle einher. Und „Das darfst du nicht sagen!“sei allzu oft „die Antwort von Mächtigen auf jene, die ihre Macht herausfordern. Zu akzeptieren, dass gewisse Dinge nicht gesagt werden dürfen, bedeutet, zu akzeptieren, dass gewisse Formen der Macht nicht herausgefordert werden dürfen.“
Wie sehr die Vorstellung von kulturell-religiösen homogenen Gruppenidentitäten politisch erzeugt ist, wie sehr sie den konservativsten Gestalten innerhalb der betreffenden Gemeinschaften erlaubt, sich als besonders authentisch zu verkaufen, und wie sehr es dabei um Macht geht – das schildert Malik ausführlich in seinem soeben auf Deutsch erschienenen Essay „Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikulturalismus und seiner Gegner“. Etwa am Beispiel Birmingham: Dort habe der Stadtrat ein multikulturelles Politikkonzept umgesetzt, indem er Schirmorganisationen der diversen Minderheiten politisch stark mit einbezog. Doch da politische Macht und finanzielle Mittel nun anhand von Ethnizität verteilt wurden, definierten sich die Menschen zunehmend über diese Kategorien; der Konkurrenzkampf um Ressourcen wurde immer erbitterter. „Die Folgen für Birmingham waren derart tiefe Gräben zwischen der schwarzen und der asiatischen Minderheit, dass es schließlich zu Straßenschlachten kam.“Malik zeigt auch, dass der Wunsch nach multikulturalistischer Politik ursprünglich nicht von Migranten kam. „Die Behauptung, die Minderheiten selbst hätten verlangt, ihre kulturellen Unterschiede öffentlich anzuerkennen und zu bekräftigen, ist historisch falsch. Multikulturalistische Strategien entwickelten sich in erster Linie, weil die politischen Eliten sie benötigten, um Einwanderung zu verwalten und die Wut zu besänftigen, die Erfahrungen mit Rassismus auslösten.“
Lesenswert ist Maliks Essay auch dort, wo er die „kulturalistische“Sicht bis zu Herder und den Romantikern zurückführt. Und auch zeigt, wie ähnlich sich rechte Kulturkämpfer und Multikulturalisten in grundlegenden Annahmen über Natur, Identität und Differenz, ja, in ihrer identitären Denkweise sind. „Beide halten die grundlegenden sozialen Grenzen für kulturelle oder für Zivilisationsgrenzen. Beide betrachten Migranten als die Anderen, als Menschen, die sich grundlegend von uns unterscheiden. Nur in ihren Vorstellungen, wie mit diesem Anderssein umzugehen ist, unterscheiden sich die beiden Perspektiven.“
Rückwärtsgewandt – rechts wie links
Es ist, da wie dort, ein rückwärtsgewandtes Konzept – auch das ist Teil von Maliks Multikulturalismus-Kritik. Die Antwort auf die Frage, wer wir sind, „ist in den vergangenen Jahren immer weniger über die Gesellschaft definiert worden, die man erschaffen will, und immer stärker über die Geschichte und das Erbe, dem man sich zugehörig fühlt.“Nicht die Möglichkeiten einer zu gestaltenden Zukunft würden das Gefühl von Zugehörigkeit prägen, sondern – verklärte – Vergangenheit.
Das Ergebnis, so Kenan Malik am Ende: eine Welt, in der sich Angst (die der rechten Kulturkämpfer) und Beliebigkeit (die der Multikulti-Befürworter) „zu einem Gordischen Knoten verflochten“hätten. Mag es begrifflich auch abgedroschen sein – das Engagement ist für Malik die Alternative zu beiden: Respekt „verlangt von uns, die Werte und den Glauben des anderen herauszufordern“. Und politische Konflikte seien „jene Konflikte, die geführt werden müssen, um sozialen Wandel zu ermöglichen.“
Nicht nur diese Passage verrät, dass Maliks doch recht düstere Sicht auf die (nicht nur britische) Gesellschaft kein Ausdruck von Pessimismus ist. Seine Kritik entspringt einem sehr zuversichtlichen Weltbild. Auch das unterscheidet ihn übrigens vom Großteil der Kulturalisten heutzutage – egal wie weit rechts oder links.