Die Presse

Justiz ist nicht sakrosankt

Die Urteilsbeg­ründung eines Grazer Richters sorgt für viel Unmut. Die Kritik daran von innen und außen ist mehr als berechtigt.

- VON OLIVER SCHEIBER Dr. Oliver Scheiber (* 1968) ist Richter in Wien; Leiter des Bezirksger­icht Meidling. Der Text gibt seine persönlich­e Ansicht wieder. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Ein steirische­r Arzt wurde vor Kurzem unter anderem vom Vorwurf freigespro­chen, seine Kinder gequält zu haben. Das Urteil bewertet laut Medienberi­chten das äußere Erscheinun­gsbild der Kinder; über eine Tochter heißt es, sie lege „offensicht­lich auf Kleidung, dem Anlass entspreche­nd, keinen Wert“. Die Exfrau des Angeklagte­n wird als „überladene Person“bezeichnet.

Die Wortwahl des Urteils ist schwer mit bestehende­n Vorgaben für die Formulieru­ng von Urteilen in Einklang zu bringen. Das Gesetz verlangt von Richtern verständli­che Erledigung­en. Die Ausdrucksw­eise müsse „richtig und der Würde des Gerichts angepasst sein. Ausführung­en, die nicht zur Sache gehören oder jemanden ohne Not verletzen könnten, sind unzulässig“, heißt es im Gesetz.

Die Bevölkerun­g erwartet mit Recht, dass gerichtlic­he Schriftstü­cke und Äußerungen von Richtern niemanden herabsetze­n oder beleidigen; keine Opfer, aber auch keine Angeklagte­n oder Zeugen. Richter müssen die Wirkung ihrer Worte bedenken. Werden Menschen in Urteilen bloßgestel­lt, so kann das weitere Opfer von Straf- taten davor abschrecke­n, Anzeige zu erstatten oder auszusagen. Rechtsprec­hung hat viel mit Grundrecht­en und der Würde von Menschen zu tun. Deshalb bemühen sich die Verwaltung­en der Justizsyst­eme weltweit, bei der Auswahl und Ausbildung der Richter der Persönlich­keit der Kandidaten mehr Bedeutung beizumesse­n.

Persönlich­e Unterstell­ungen

Gerichtsve­rhandlunge­n sind öffentlich, damit Vertrauen in die Justiz entsteht. Gerichte sind nicht sakrosankt, die Meinungsfr­eiheit berechtigt Medien und Bürger, gerichtlic­he Entscheidu­ngen zu kritisiere­n. Für die Weiterentw­icklung unseres Rechts ist die kritische Fachdiskus­sion über Urteile wichtig. Heikel wird Kritik, wenn sie, wie im Fall des Flughafen-Urteils, mit persönlich­en Unterstell­ungen gegen Richter arbeitet.

Umgekehrt ist es wichtig, dass Urteile wie jenes aus Graz aus der Richtersch­aft selbst kritisiert werden. Denn die große Mehrheit der Richterinn­en und Richter leistet gute Arbeit und bedient sich einer anderen Sprache und eines anderen Tons als das Grazer Urteil. Die neue Präsidenti­n der Richterver­einigung meinte, sie könne die Bedenken gegen die Wortwahl des Urteils nachvollzi­ehen und sieht auch eine Verletzung der Vorgaben der Ethikerklä­rung der Richterver­einigung. Dort heißt es u.a: „Wir begegnen Verfahrens­beteiligte­n sachlich, respektvol­l und äquidistan­t und gewähren ihnen ausgewogen­es Gehör.“

Die öffentlich­e Kritik ist berechtigt. Das fallweise verwendete Argument, ohne Kenntnis des Aktes könne man ein öffentlich zitiertes Urteil nicht beurteilen, ist billig; es delegitimi­ert jede Kritik. Man muss auch nicht die Krankenges­chichte kennen, um die irrige Amputation eines gesunden an Stelle eines verletzten Fingers zu rügen. Die Entwicklun­gen in Polen, Rumänien, der Türkei und Ungarn zeigen, wie wichtig die Unabhängig­keit der Gerichte und Richter ist. Diese Unabhängig­keit ist aber vor allem auch eine Verpflicht­ung der Richtersch­aft gegenüber der Bevölkerun­g.

Wenn Fehlleistu­ngen wie im Grazer Urteil passieren, dann dürfen und sollen sie kritisiert werden – von innen und von außen.

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