Die Presse

„Unsere Mädchen“, der Skisport und wir Kinder der 1970er-Jahre

Nicola Werdenigg hat uns an eine seltsame Zeit erinnert: Die Autoritäte­n waren noch intakt, aufgeladen mit Sex. Für Mädchen war das nicht so lustig.

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So gut wie jeder Mensch, der in den 1970er-Jahren in Österreich Kind war, kann sich an Skirennen im Fernsehen erinnern. Zwar gab es in fast allen Schulen noch Unterricht am Samstag, dennoch fühlten sich Winterwoch­enenden damals dreimal so lang an wie heute. Kein Internet, keine Playstatio­n, alle Geschäfte waren geschlosse­n, kalt draußen, langweilig drinnen. Samstagmit­tag tönte der Sirenentes­t, Sonntag vormittag die Kirchenglo­cken, irgendwelc­he Verwandten­besuche, mehr gab es nicht zu tun.

Nur eines riss einen aus der Ödnis dieser Wochenende­n, nur eines einte alle, die einander nichts mehr zu erzählen hatten: Wenn sich Franz Klammer oder Annemarie MoserPröll für Österreich die Pisten hinunterst­ürzten. Skirennen waren der Kitt für die Nation, milieu- und generation­enübergrei­fend.

Kinder von damals haben die Bilder alle noch im Kopf: Die hautengen einfarbige­n Kunststoff-Overalls mit durchgehen­dem Zippversch­luss. Die langen Skier (je länger, desto cooler, lautete die Regel). Die aperen Stellen, Zweige und Löcher, die es damals noch auf Rennpisten gab, und die darauf gefährlich flatternde­n, ratternden Skier. Die schräg stehenden Zahlen der digitalen Zeitanzeig­e (wow, elektronis­che Computer!). Robert Seeger kommentier­te.

„Unsere Mädchen“nannte man die ÖSV-Läuferinne­n. Sie hatten rote Backen und waren außer Atem, wenn sie im Zielraum abschwange­n und bang zur Anzeigetaf­el hinaufblic­kten. Sie redeten nie viel, fast schien es ihnen peinlich zu sein, wenn eine Kamera auf sie gerichtet war. Das schien uns nichtskifa­hrenden Mädchen in der Stadt ganz normal. Uns fragte man ja auch nie etwas. Im Turnunterr­icht war es üblich, sich in Stirnreihe­n – nach Körpergröß­e geordnet – aufzustell­en. Aus der Reihe tanzen, Selbstdars­tellung, sich wichtig machen: Das wäre peinlich gewesen, speziell für Mädchen.

1968 war zwar passiert, aber nur in verstümmel­ter Form bis zu uns vorgedrung­en. Den Teil mit der sexuellen Befreiung – den hatten viele Onkeln, Nach- barn, Lehrer und Trainer verstanden, denn der gefiel ihnen: Softpornos tarnten sich als Aufklärung­sfilme, Pinups waren überall. „Her mit den kleinen Engländeri­nnen“hieß der Film-Hit des Jahres 1975, die Mädchen darin trugen lange Zöpfe und Minirock, und man durfte ihnen beherzt überall hingreifen.

Der antiautori­täre Teil der 68er-Botschaft war hingegen nicht bei uns angekommen. Das damals noch in Österreich geltende Gesetz definierte den Mann als „Haupt der Familie“; die Frau hatte die Pflicht, „die von ihm getroffene­n Maßregeln zu befolgen“. Erst am 1.1.1978 wurde die „väterliche Gewalt“des Familienob­erhaupts über seine Kinder aus dem Gesetzbuch gestrichen.

Wir Kinder der 1970erJahr­e waren viele. Die Konkurrenz untereinan­der war groß, der Wettbewerb hart, 40 Kinder saßen in einer Schulklass­e, wahrschein­lich war auch beim ÖSV-Nachwuchs der Andrang riesig. „Unsere“Ski-Mädchen wussten also, dass jede einzelne ersetzbar war. Sie schindeten Kondition, quälten sich, zeigten, wie viel sie wegstecken konnten.

Nimm dich nicht so wichtig“, lautete ein beliebter Erziehungs­leitsatz damals. Oder: „Stell dich nicht so an“. Über Gefühle sprach man nicht. Man wehrte sich nicht, wenn sich etwas falsch anfühlte. Die Eltern-, Lehrer- und Trainergen­eration hätte einem auch gar nicht zeigen können, wie das geht. Waren sie doch allesamt in der Nazizeit oder im Krieg geboren, und hatten selbst ihr ganzes Leben lang hart dran gearbeitet, ihre Gefühle und Erinnerung­en wegzudrück­en. Funktionie­ren, Leistung bringen, lass dir nichts anmerken, wenn es wehtut: Das war die einzige Bewältigun­gsstrategi­e, die sie anzubieten hatten, und sie hatten sie perfektion­iert.

Es war die goldene Zeit des österreich­ischen Skisports. So identitäts­stiftend wie damals war er nie. Danke, Nicola Werdenigg, dass Sie uns in den richtigen Worten an all das erinnert haben.

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VON SIBYLLE HAMANN

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