Ein fideler Asket ist 65
Musik. Komponist und Arrangeur Mathias Rüegg wurde am Freitag 65. Vor sieben Jahren stürzte er in eine Krise. Er hat sie bravourös gemeistert.
Ein tiefer Fall führt oft zum höheren Glück“, heißt es in Shakespeares „Cymbeline“. Dem zustimmen kann wohl Komponist und Arrangeur Mathias Rüegg. Vor sieben Jahren musste er sein international erfolgreiches, 33 Jahre existierendes Vienna Art Orchestra auflösen. In einer veränderten Kulturlandschaft gab es zu wenig Auftrittsmöglichkeiten für so ein großes, privat geführtes Ensemble. Die Folgen waren dramatisch.
„Am ärgsten war für mich, dass ich plötzlich auch als Komponist, Musiker und sogar als Person nicht mehr existierte. Damit hatte ich nicht gerechnet, weil ich ja ziemlich gut vernetzt war. Von einem Moment auf den anderen kamen keine Angebote mehr“, sagt Rüegg. Der am Freitag 65 Jahre alt gewordene Künstler hat ab diesem Moment auch seinen Lebensstil drastisch geändert. Aus dem heiteren Anakreontiker wurde ein entspannter Asket. Warum das Gewicht der Zeit nicht auf ihm lastet, erklärt er so: Es gebe ein subjektives Altersempfinden und die objektiven Zahlen. Die beiden Elemente könnten sehr stark differieren. „Die objektive Zahl erklärt einem relativ banal, wie lang man statistisch noch zu leben hat. Da kommt man nicht darum herum. Aber was sonst so über das Altern erzählt wird, ist Blödsinn. Das subjektive Altern, das gestaltet man selbst.“
Gymnastik und Krafttraining
Und so betreibt Rüegg Gymnastik und Krafttraining. Zudem läuft er dreimal wöchentlich. „Ich habe alle Stufen der Askese durchschritten. Meine neueste Errungenschaft ist, dass ich täglich vier Minuten kalt dusche. Zuletzt in Kopenhagen war ich frustriert, in Salzburg verzweifelt. Einzig in Wien ist das Wasser wunderbar kalt“, sagt er. Der Mann sieht aus wie das, was man Best Ager nennt. Noch wichtiger aber ist seine wiedergewonnene innere Souveränität. Diese kam mit dem aktuellen Musikprojekt, das man mittlerweile wieder ein langfristiges Verhältnis nennen kann. „Wir hatten unsere Krisen, aber wir haben uns gefunden. Unser Programm ist klar: Wir wollen romantische Kunstlieder auf unsere Art umsetzten.“
Wir, das sind Rüegg und die oberösterreichische Sängerin und Flötistin Lia Pale. Gefunden hat Rüegg die junge Dame als Vortragender auf der Musikuniversität in Wien. Damals konzipierte er die Musik für einen New Yorker Zirkus. Der Regisseur wünschte sich zwei Schubert-Stücke. Pale ging damals für ein Jahr nach Schweden. Man hat sich über Skype künstlerisch zusam- mengerauft. Gerade ist das edel tönende „Schumann Song Book“erschienen, eine Sammlung von 16 Liedern, deren Poesie von Granden wie Josef von Eichendorff und Adelbert von Chamisso stammt. Die Aufnahmen gingen rasch von der Hand. Rüeggs Gedanken sind schon beim nächsten Opus, das aus Brahms-Liedern bestehen wird. Diese Geborgenheit in der Kunst entspannt ihn. Der Sturz ins Prekäre hat Rüegg zweifelsohne verändert. Dabei hatte er zunächst gar keine große Vision für seine Karriere. Mit 21 Jahren ging er nach Graz, mit 24 Jahren dann nach Wien.
Mathias Rüegg wurde 1952 in Zürich geboren, wuchs in Graubünden auf. Er ist Pianist, Komponist und Arrangeur. Seit 1976 lebt er in Wien. 1977 gründete er das Vienna Art Orchestra. 1993 initiierte er die Gründung des Wiener Jazzclubs Porgy & Bess. Seit 2013 arbeitet er mit der Sängerin Lia Pale an romantischen Kunstliedern. Heute, Samstag, ist er um 20.30 Uhr im Porgy & Bess zu sehen. Im ersten Set gibt es selbst komponierte Kammermusik, im zweiten präsentiert er gemeinsam mit Lia Pale Lieder von Robert Schumann. „Eines Tages klingelte es bei mir, eine unbekannte Frau stand da und meinte: ,Du, ich wohne jetzt für zwei Tage bei dir.‘ So etwas war in den 1970er-Jahren gar nicht ungewöhnlich“, erzählt Rüegg. „Sie hat sich also für zwei Tage bei mir niedergelassen und danach gemeint: ,Ich nehme dich jetzt mit nach Wien. Du gehörst nach Wien.‘ Und so bin ich mit ihr nach Wien gefahren.“
Gewohnt hat er dann in jenem legendären Haus am Wiener Bauernmarkt, wo neben dem Vienna Art Orchestra auch die Erste Allgemeine Verunsicherung gegründet wurde. Das erste VAO-Konzert fand übrigens bei der im Nachbarhaus situierten Jazz Gitti statt. „Wir waren zwölf Leute und machten zunächst einfach Happenings. Da waren Kinder dabei, Dichter wie Joe Berger, Hermann Schürer, Bernt Burchhart und einmal sogar ein Hund“, lacht Rüegg. Der einstige Linke definiert sich heute als „ultraliberal“. Wienerisch spricht er allerdings bis heute nicht. „In meiner Grazer Zeit hab ich mir geschworen, dass ich nie ein Wort Steirisch sprechen werde. Was das Wienerische anlangt, so kann ich wenigstens sagen, dass ich SMS super im hiesigen Dialekt schreiben kann.“