Bis die Blase platzt
Wie so viele Leute bedaure auch ich, dass ich mich nicht vor einigen Jahren mit ein paar Bitcoins eingedeckt habe, als sie noch für ein Butterbrot zu haben waren. Ich werde dieses Versäumnis aber bestimmt nicht nachholen. Hypes dieser Art pflegt nämlich der Absturz zu folgen, und den wenigen, denen es gelingt, im richtigen Moment auszusteigen und ihren Gewinn mitzunehmen, stehen die vielen gegenüber, denen dies nicht gelingt. Charlie Chaplin und Herbert Hoover waren unter den Glücklichen. Rembrandt, Isaac Newton und Jonathan Swift fielen auf die Nase. Der Bitcoin kann ohne Weiteres noch eine Weile in den Himmel schießen. Er kann ebenso gut schon morgen abstürzen.
In solchen Fällen verdient eine mehr oder weniger große Zahl von Leuten ein Vermögen. Viele verpassen den Moment zum Aussteigen und sind all das schöne Geld wieder los. Prominente Beispiele stehen für die große Zahl der anonym Gebliebenen. Der neue US-Präsident Herbert Hoover, der dem Boom misstraute, ohne es laut zu sagen, verkaufte, ebenso wie Charlie Chaplin, 1929 wenige Monate vor dem Crash seine Aktien. Rembrandt blieb im Februar 1637 ebenso wie sein Malerkollege Jan van Goyen auf seinen Tulpenzwiebeln sitzen und verlor sein gesamtes Vermögen. 83 Jahre nach der holländischen Tulpenzwiebelblase zählten in England Isaac Newton und Jonathan Swift zu den Opfern der sogenannten Südseeblase. König Georg I. soll rechtzeitig abgesprungen sein.
Holland hatte im Februar 1637 bereits jahrelang in einem wahren Tulpenzwiebelrausch gelebt. Im Januar hatte das immer neue Blüten treibende Spekulationsfieber seinen Höhepunkt erreicht. Für eine einzige Zwiebel der Sorte Semper Augustus sollen in einem Fall 10.000 Gulden bezahlt worden sein, 40 Jahresgehälter eines Zimmermannes, rund das Sechsfache des Honorars, das Rembrandt einige Jahre später für seine „Nachtwache“erhielt. Am 5. Februar wurde in Alkmaar noch eifrig gehandelt, im 40 Kilometer entfernten Haarlem hatte schon zwei Tage zuvor kein Händler mehr einen Kauf riskiert. Am 7. Februar geschah es dann. Die Tulpenzwiebel-Investments waren plötzlich gerade noch fünf Prozent dessen wert, was sie wenige Tage vorher gekostet hatten. Nur die kostbarsten Zwiebeln fanden überhaupt noch Käufer – reiche Liebhaber, welche die teure, aus der Türkei stammende Pflanze auch schon vorher für ihre Gärten angeschafft hatten.
Bald nachdem der Botaniker Carolus Clusius Österreich wegen seines evangelischen Glaubens verlassen und die Tulpe nach Holland mitgebracht hatte, begannen sich Geschichten von Raub und Diebstahl um Europas jüngstes Luxusgut zu ranken. Ein Mosaikvirus, das heute zur sofortigen Ausscheidung der befallenen Pflanze führt, half den Gärtnern, eine Fülle attraktiv gemusterter Sorten zu züchten, darunter die „Semper Augustus“. Die Parallele ist unübersehbar: Im Holland des 17. Jahrhunderts wurde die Tulpe, indem sie zum Spekulationsobjekt wurde, von ihrer eigentlichen Funktion, die Gärten der Reichen zu schmücken, völlig losgelöst. Dem Bitcoin, der als Internet-Zahlungsmittel dienen sollte, ist genau dasselbe passiert.
Der Tulpenwahn brachte bereits Terminund Optionsgeschäfte hervor, ja selbst Optionen auf Anteile an einer Tulpenzwiebel. Der Ablauf wurde zum klassischen Modell zur Erklärung ähnlicher Krisen. In einer langen Phase immer schnellerer Wertsteigerungen entdecken immer mehr Menschen die neue Möglichkeit, schnell reich zu werden. Die Wertsteigerung beschleunigt sich, es folgt eine viel kürzere Phase der Überhitzung, bis die Blase platzt. Das Erwachen war für die nüchtern denkenden Holländer ein mit Scham verbundener Schock. Nach einem Jahr der Ratlosigkeit und gescheiterten Versuche, das Problem der fast immer uneinbringlichen Forderungen zu regeln, wurden Schlichtungskommissionen eingerichtet. Die meisten Kontrahenten einigten sich auf Ausgleichszahlungen von drei bis fünf Prozent. Doch dank Hollands gewaltiger Wirtschaftskraft kam es zu keiner Rezession.
Der Schotte John Law galt lange nur als Schwindler, Glücksspieler und Bankrotteur, bis der Österreicher Joseph Schumpeter einen Platz in der ersten Reihe der großen Geldtheoretiker für ihn reklamierte. In einem 1705 erschienenen Buch schlug Law Grundvermögen neben den Edelmetallen als Deckung für Papiergeld vor. Damals gab es bereits gute Erfahrungen mit dem goldgedeckten Papiergeld der Bank von Amsterdam und enttäuschende mit dem Papiergeld einer Stockholmer Bank. Frankreich lavierte am Rande des Staatsbankrotts. Schuld daran war der von König Ludwig XIV. in den 72 Jahren seiner Herrschaft mit Luxusbedürfnissen und Kriegen angehäufte Schuldenberg. Law konnte den Herzog von Orleans´ für seine Ideen gewinnen. Er druckte Geld und gründete die Compagnie d’Occident. Die sollte Staatsschulden aufkaufen und die dabei entstehenden Verluste durch die Ausbeutung der Naturschätze im heutigen Louisiana wettmachen. Law trieb mit allerlei Tricks, die auch heute noch üblich sind, die Kurse der Compagnie in die Höhe. Leider war am Mississippi damals genau so wenig zu holen wie Ende des 20. Jahrhunderts in den fantastischen Gefilden der New Economy. Außerdem floss Geld nach England ab, wo die Südseeblase womöglich noch größere Gewinne versprach.
Auch England steckte tief in Schulden. Ähnlich wie die Mississippi-AG in Frankreich sollte die South Sea Company Staatsschulden übernehmen und dafür Ausbeutungsrechte in Südamerika erhalten. 1720 platzten beide Blasen. Law setzte sich nach Italien ab. Er hatte, wie sich später zeigte, eine Menge adeliger Spekulanten arm gemacht, aber mit seinen Banknoten die Wirtschaft belebt, Strassenbauten und andere Projekte ermöglicht und die Staatsschulden zwar nicht gesenkt, aber stabilisiert. England rauschte in eine tiefe Rezession. Im Unterhaus soll damals der Antrag gestellt worden sein, die Schuldigen zusammen mit Schlangen in Säcke einzunähen und in die Themse zu werfen. Auch Jonathan Swift reagierte sich ab und schenkte der Welt eine unsterbliche Satire auf die herrschende Klasse und die Natur des Menschen: „Gullivers Reisen“.
Die Blase, die im Herbst 2008 platzte, war mit kaum weniger luftigen Werten als Optionen auf Anteile an einer Tulpenzwiebel gefüllt, und sie wurden immer luftiger. Die realen Märkte waren voll innovativer Produkte. Warum sollten die Anlagemärkte zurückstehen? Geld war in Fülle vorhanden und strebte nach Möglichkeiten, sich zu vermehren. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erübrigte es sich, Mississippi-Gewinne und südamerikanische Reichtümer zu versprechen. Weit davon entfernt, bloß ein irritierender Begleitumstand zu sein, wurde die Undurchschaubarkeit der Finanzprodukte konstitutiv für das neue System. Er habe, sagte der Mitbegründer des Softwarekonzerns SAP Hasso Plattner in einem Interview, seinen persönlichen Vermögensberater „in den vergangenen Monaten auch gefragt, ob wir zum Beispiel Derivate besitzen. Wir hatten sie nicht. Ich verstehe die nämlich nicht. Das habe ich sogar mal im Konzern gesagt, als das Thema dort aufkam. Da haben manche noch gelächelt.“
Dieses Lächeln war weit davon entfernt, das Lächeln jener zu sein, die die Zusammenhänge noch verstanden – es war das überlegene Lächeln der Wissenden. Sie lächelten über ein Auslaufmodell, das die Werkzeuge, die der moderne Mensch souverän handhabte, noch durchschauen wollte und in einer Welt geheimnisvoller Platinen, die alle gleich aussehen, was immer sie bewirken, nach dem Zusammenspiel von Zahnrädern und Hebeln suchte. Es war ein Lächeln vom hohen Sockel des Bewusstseins herab, dass selbst die hoch spezialisierten Finanzmathematiker, die Schöpfer all dieser Produkte, ihre eigenen Kreationen nicht mehr verstanden und sich auf ihre Computer verließen. Dieses ganze hochkomplexe System war schließlich nicht dazu da, durchschaut zu werden, sondern Gewinne zu produzieren. Und das tat es zunächst.
Dabei war nicht weniger Leichtgläubigkeit im Spiel als zu Laws, Newtons und Swifts Zeiten. Auf das Geld projiziert der Mensch erfüllbare wie unerfüllbare Wünsche, ums
QGeld ranken sich seine Träume von einem besseren Leben. Der Hauch einer winzigen Gewinnchance lässt Millionen jede Woche um die Euromillionen spielen – und bis zur Ziehung vom großen Geld träumen. Sie bezahlen mit den wenigen Euro für den Wettschein nicht nur die minimalen Chancen ihres bescheidenen Investments, sondern vor allem den Traum. An der Börse ist die Möglichkeit, reich zu werden, um einiges größer, und der Kompromiss des träumenden Ich mit dem realistischen Ich fällt leichter. Geht es hart auf hart in dem Konflikt, hat es das leichtgläubige Ich umso leichter, je zeitgeistiger sich die Verführung maskiert und je überzeugender sie auftritt.
Im 18. Jahrhundert waren die Schätze, die in fernen Ländern auf den warteten, der sie hob, eine mächtige Verführung, wie die Mississippi- und die Südsee-Blase bewiesen. Unter der Südsee wurde um 1720 noch Südamerika verstanden. Aber selbst noch im frühen 19. Jahrhundert mit seinem bereits viel besseren geografischen Wissen war die Anziehungskraft ferner Länder ein gutes Werkzeug für einen leveraged buyout der Vernunft. Allerdings muss der Schotte Gregor MacGregor ein wahres Genie der Kunst gewesen sein, Menschen zu überzeugen.
Er war ja auch ein ganz besonderes Sonntagskind, geboren am Heiligen Abend des Jahres 1786, der auf einen Sonntag fiel. Er trat in die Dienste des südamerikanischen Freiheitshelden Simon´ Bol´ıvar, wurde General und Bol´ıvars Schwiegersohn, kehrte nach England zurück und vermarktete, als „Fürst von Poyais“, die nicaraguanische Moskitoküste. Wie schon der Name sagt, handelte es sich um einen ungesunden, fast unbewohnten Landstreifen, der von den europäischen Siedlern verlassen worden war. MacGregor baute auf die Anziehungskraft exotischer Länder – und auf die Wirkung großzügiger Schmiergelder. Er erfand eine blühende Hauptstadt mit modernen Bauten einschließlich Parlament und Oper, verkaufte Grundbesitz, wechselte gute englische Pfund in poyaisisches Fantasiegeld, legte eine 200.000Pfund-Anleihe auf, deren Anteile binnen weniger Wochen ausverkauft waren, und wurde sogar in den Adelsstand erhoben. Die von Sir Gregor verführten Auswanderer strandeten an der öden Küste, ein Teil starb, die Überlebenden kehrten wütend zurück, weitere Auswandererschiffe wurden von der Marine abgefangen.
Das Erstaunliche am Fall MacGregor: Er war kurz in Haft, wurde aber nie bestraft. Sir Gregor verzehrte fast 20 Jahre lang in Großbritannien sein erschwindeltes Vermögen und beantragte, als es verbraucht war, die Wiedereinsetzung in seinen venezolanischen Generalsrang nebst sofortiger Pensionierung. Beides wurde gewährt. Er starb als wohlhabender Pensionist in Caracas. Aber vielleicht ist dieses Happy End doch nicht so erstaunlich. Auch so mancher Urheber der Katastrophe von 2008 bekam selbst noch nach dem Platzen der Blase seine millionenschweren Abfertigungen und Boni und lässt es sich heute gut gehen.