Labor für die Politik
Es liegt ziemlich genau in der Mitte dieses Buches, das Kapitel, in dem Manfried Rauchensteiner über die letzte Steigerung der Gewalt im Österreich des Jahres 1945 berichtet, im März und April. Kolonnen von Flüchtlingen, Kriegsgefangenen und KZ-Insassen durchziehen das Land, sterben aus Erschöpfung neben der Straße. Wie Wahnsinnige bringen NS-Verantwortliche noch in den letzten Wochen junge Männer, die den Kampf verweigern, an den Galgen, inszenieren eine letzte gnadenlose Abrechnung mit ihren Gegnern. Die alliierte Luftwaffe bombardiert das Land. Zivilisten werden zu Mördern, sie erschlagen abgestürzte Piloten auf den Feldern. Die Ersten, die ins Land kommen, sind ausgerechnet die gefürchteten Rotarmisten. Mit ihrem Vormarsch werden die Lebensräume der Bevölkerung im Osten Österreichs zu Schlachtfeldern, Ortschaften werden zu Trümmerhaufen, auch die Hauptstadt Wien. Man haust in den Kellern.
Der Autor, der diese Gräuel erzählt, bleibt mit jedem Satz Wissenschaftler, er referiert gewissenhaft und mit Distanz die Quellen, für historisch Interessierte sind sie nicht neu. Dennoch schnürt es dem Leser bei seiner sprachlich eindringlichen Schilderung der menschlichen Schicksale die Kehle zu. Der Historiker entfaltet hier seine ganze Meisterschaft als Erzähler. Er belegt alles mit Zahlen und Fakten und flicht oft am Ende eines Absatzes – sein besonderes Stilmittel – resümierende lakonische Sätze ein, die im Gedächtnis haften bleiben: „Meist blieben sie zeit ihres Lebens menschliche Wracks“(über traumatisierte Soldaten), oder: „Das KZ Mauthausen war und ist ein Pfahl im Fleisch Österreichs.“
Qhat er als Wissenschaftler, Lehrer, Autor und Mentor dazu beigetragen, die Forschung zur Geschichte Österreichs in diesen Bereichen voranzutreiben.
Mit seinem Geschenk an die Republik zu ihrem hundertsten Geburtstag liefern er und der Böhlau Verlag gleich einmal optisch eine Überraschung: mit Titel und Buchcover. Man sieht auf dem Cover einen Ausschnitt aus einem Gemälde von Otto Dix: Es zeigt ein Selbstporträt des Malers mit dem strengen (missbilligenden?) Blick eines Menschen, dem nichts zu entgehen scheint. Offensichtlich stehen die beiden anderen Personen auf dem Bild unter der Beobachtung dieses Mannes. In dem Jahr, als Dix das Bild gemalt hat, 1922, ist Österreich gerade finanziell einer ungewissen Zukunft entgegengetaumelt und unter der strengen Observanz des Völkerbunds gestanden.
Rauchensteiner findet viele Gründe, warum er dem Buch den Titel „Unter Beobachtung“gegeben hat, und erklärt es so: „Vom ersten Tag an stand das Land unter Beobachtung. Und es waren nicht nur freundliche Blicke, mit denen auf Österreich gesehen wurde. Sorge, Argwohn, Mitleid, Misstrauen und Gier mischten sich mit Gleichgültigkeit, Zufriedenheit und Wohlwollen.“Das änderte sich auch in der Zweiten Republik nicht. Österreich lag zwischen den Blöcken und erfuhr als besetztes Land eine neue intensive Form der Beaufsichtigung. „Jedes Mal, wenn sich in Österreich etwas tat, stand das Land unter Beobachtung. Und auch dann, wenn sich nichts tat. Immer wieder galt es als Problemzone, dann wieder als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als der böse Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte.“
Rauchensteiners Erzählfluss beeindruckt, er hetzt nicht durch die hundert Jahre, es geht ihm nicht darum, jedes Ereignis zu beschreiben. Vielmehr beeindruckt er immer dann ganz besonders, wenn er plötzlich innehält und zu reflektieren beginnt, über Parallelitäten etwa im Lauf der Geschichte. Zweimal, 1918 und 1945, stellte sich in diesen hundert Jahren die Frage: Wer waren „die“Österreicher, wo war ihr Platz im Nachkriegseuropa? Keiner wusste das in den entscheidenden Tagen so genau.
Bestand nicht beide Male die Möglichkeit, dass angesichts der Hoffnungslosigkeit der Situation das Land regelrecht implodierte und damit jener Auflösung entgegenging, die die Geschichte völlig anders hätte aussehen lassen? 1918 hatte das Land die Illusion, der Staat würde so klein nicht bleiben, an eine Überlebensfähigkeit als Kleinstaat glaubten die wenigsten, sie wollten den Anschluss an Deutschland, 1945 lag die Gefahr der Teilung dieses Staates in der Luft, man sah eine Rettungschance darin, sich demonstrativ von Deutschland loszusagen. 1918 wollten die Siegermächte dem Land eine historische Schuld aufladen, 1945 war die weltpolitische Konstellation günstiger, die Alliierten, machtpolitisch und ideologisch bereits verfeindet, ließen sich auf ein „Experiment Österreich“ein. Fast wie in der Situation eines Laboratoriums wollte die Sowjetunion am Beispiel dieses Landes den „Prozess des Kampfes zweier Systeme“beobachten, des kommunistischen und des kapitalistischen. Aus der von Karl Kraus so bezeichneten „Versuchsstation des Weltuntergangs“war ein Labor für die Konfrontation zweier Ideologien geworden.
Beide Male, 1918 und 1945, gab es im Land genug Selbstwertgefühl, auf den Trümmern der vergangenen Regime das Haus neu aufzubauen. Beide Male war man sich einig, dass eine demokratische Republik erstehen sollte, mit einer bürgerlichen Ordnung und einem den westlichen Demokratien vergleichbaren politischen System. Doch die Erste Republik scheiterte, Österreich stand „beispielhaft für die Zerstörung der gedachten Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg und für die Selbstzerstörung eines Staates. Es lieferte eines von vielen Beispielen für Diktatur und Krieg, für Leidenschaft wie Täterschaft.“Erst beim zweiten Anlauf wurde es ein Beispiel für eine gelungene Rekonstruktion eines Staatswesens, das davon profitierte, weder für den Westen noch für den Osten verzichtbar zu sein, es wurde Begegnungsort und „Brückenbauer“in der Zeit des Kalten Krieges. Mit dem Wegfall dieser Funktion setzte eine Identitätskrise ein: „Auch neue Formen von Nationalismus, Gewaltsamkeit und jener von Samuel Huntington beschriebene ,clash of civilisations‘ findet in Österreich seine ,Probebühne‘.“Das habe, so der Autor, seine Wurzeln sicher nicht in Österreich, „doch das Land ist Teil davon“. Und er schließt mit dem Satz: „Im Strom der Zeit sind auch einhundert Jahre bestenfalls eine Stromschnelle.“