Wer nicht gleich auf 180 ist, verliert
Darts-WM. Für notorische Besserwisser bloß ein trinkfester Wirtshaussport, für Profis und Millionen Fans jedoch das präziseste Entertainment – ab heute ermitteln 72 Spieler beim Spektakel im Londoner „AllyPally“den neuen Champion.
London. Von Sportlern wie Benjamin Karl milde belächelt, von Millionen Fans geliebt und mit schrillen Typen am Brett auch ein Quoten-Hit: Darts ist mit seiner TVShow ein massentaugliches Unterhaltungsphänomen. Und: es ist auch Sport. Die Kombination von hoher Wurfkunst aus 2,37 Metern Entfernung, Faszination, Präzision, Ausdauer – und der Demut des Beobachters, nie im Leben 180er-Serien zu werfen wie Weltmeister Michael van Gerwen. Es ist wie im Fußball, Skifahren etc., der Selbstversuch erklärt die wahre Liebe.
Jährlich erlebt Darts seinen Höhepunkt im Advent, rund um Neujahr. Dann ruft die WM in die West Hall, Londons Alexandra Palace, den Fans „AllyPally“tauften – und dort „Ballermann“-esque Feste feiern hinter Stars der Szene wie van Gerwen, dem Österreicher Mensur Suljovic´ oder Phil Taylor. Es wird getrunken, gesungen, getanzt, geju- belt und gegrölt; geworfen freilich auch. Die Scheibe zählt Segmente, nummeriert von 1 bis 20, mit Doppel- und Dreifach-Feldern, inmitten thront das „Bulls Eye“.
72 Profis, zwei Millionen Euro
Für notorische Kritiker bleibt Darts ein „Wirtshaussport, ausgeübt von tätowierten Männern mit dicken Bäuchen“, dem trotz des Hypes jede Breitensportwirkung bzw. Nachwuchsförderung nicht anzudenken sei. Zwei Millionen TV-Zu- schauern pro Tag ist das jedoch gleich, sie bewundern ihre Helden. Es wird ein Weltmeister gekürt, den 72 Profis „auswerfen“, zwei Millionen Euro Preisgeld sind im Spiel, selbst der Pokal ist 20.000 Euro wert. Für einen schlichten Freizeitsport ist zuviel Geld im Umlauf.
Heute, 20 Uhr, hebt das Event (live Sport1, dazn) an, Champion van Gerwen eröffnet mit dem Duell gegen seinen niederländischen Landsmann Christian Kist. Bis zu 3000 Zuschauer drängen sich dann in der Halle, tragen Perücken, Trikots, Schals, sind verkleidet als Queen Elizabeth, Teletubby oder halten bunte Transparente hoch. Stimmen sie ihre Hymne „Chase the Sun“(Planet Funk) an, erreicht das Spektakel seinen Höhepunkt. Dann ist Großes passiert; ein Satz, Leg oder Spiel vorbei. Es geschieht immer wieder, in jeder Pause, bei jeder TV-Unterbrechung. Vielleicht zuvor noch untermalt vom mit krächzender Stimme, erstaunlich laut und lang gebrüllten „Onehundredandeighty“des „Callers“(Ansager) Russ Bray. Ist er denn auf 180? Womöglich. Sein Schrei jubelt aber drei Pfeile in der Triple-20-Fläche aus, es ist ein Kunststück. Ein Jackpot – bei der vergangenen WM brüllte Bray binnen zweier Wochen 708 Mal.
Bei dieser WM trifft auch Wehmut die Dartscheibe. Phil Taylor, 57, 16-maliger Weltmeister und Wegbereiter dieses Präzisionssports, geht anschließend in Ruhestand. Nun hofft die Masse, dass ihre Ikone (Auftakt am Freitag) mit einem Titel abtreten, dem Künstlernamen „The Power“ein letztes Mal gerecht werden kann. Der vierfache Großvater ist Multimillionär, Werbestar und soll von der WM direkt ins „Dschungel Camp“wechseln. „Double-Out“einmal anders, zum Abschied aber extrem hoch dotiert. (fin)