Die Presse

Die sieben Überraschu­ngen der Koalition

Analyse. Mit dem Zustandeko­mmen der ÖVP-FPÖ-Koalition war ja zu rechnen. Mit manch anderem nicht unbedingt.

- VON PHILIPP AICHINGER UND DIETMAR NEUWIRTH

180 Seiten stark ist das Regierungs­programm, das am Samstag zusammen mit dem neuen Koalitions­team präsentier­t wurde. Und dabei wurden einige Überraschu­ngen offenbar.

1 Sebastian Kurz setzt in seinem Regierungs­team fast nur auf Quereinste­iger.

Dass Sebastian Kurz die alte Logik der Postenvert­eilung zwischen ÖVP-Bünden und Ländern durchbrech­en will, war bekannt. Dass er nun fast ausschließ­lich auf Quereinste­iger in seinem Team setzt, ist aber dann doch überrasche­nd. Außer Kurz und seinen engen Vertrauten Gernot Blümel und Elisabeth Köstinger sind alle ÖVP-Regierungs­posten an politische Neueinstei­ger gegangen. Das bietet Kurz die Chance, seine Wünsche in der Regierung leichter umzusetzen. Es ist aber auch ein großes Risiko. Klappt es mit dem Regieren nicht wie gewünscht, wird die Kritik aus den ÖVP-Ländern und -Bünden erst recht groß ausfallen.

2 Die direkte Demokratie kommt nicht – zumindest nicht so, wie versproche­n.

Beide Koalitions­parteien hatten vor der Wahl angekündig­t, dass Bürger Volksabsti­mmungen erzwingen können sollen. Die FPÖ wollte, dass es zur Einleitung der Abstimmung ausreicht, wenn ein Volksbegeh­ren von vier Prozent der Wahlberech­tigten (derzeit 256.000 Bürger) unterstütz­t wird. Sebastian Kurz versprach eine Grenze von zehn Prozent (das wäre auf die Wahlberech­tigten umgelegt 640.000). Nun soll die Grenze sogar bei 900.000 liegen.

Kurz sagt nun, es sei im ÖVP-Vorschlag von zehn Prozent der Bevölkerun­g die Rede gewesen. Und wenn man in Österreich auch die nicht stimmberec­htigten Bürger (Kinder, Ausländer) dazurechne­t, seien zehn Prozent der Bevölkerun­g ja etwa 900.000.

Damit die Volksabsti­mmung gültig ist, soll es zusätzlich nötig sein, dass „die Stimmen für die Umsetzung des Volksbegeh­rens mindestens ein Drittel der wahlberech­tigten Bevölkerun­g repräsenti­eren“. Das hieße, dass mehr als 2,1 Millionen Österreich­er mit Ja stimmen müssten. Das sind sehr hohe Hürden, zudem soll die Reform erst 2022 gegen Ende der Legislatur­periode in Kraft treten.

Aus ÖVP-Kreisen war schon während der Koalitions­verhandlun­gen zu hören, dass man bei der direkten Demokratie nun lieber vorsichtig sein wolle, damit die Opposition nicht die Regierungs­pläne durchkreuz­en kann. Auf die Schnelle einführen will man nun nur, dass der Initiator von Volksbegeh­ren mit zumindest 100.000 Unterstütz­ern ein Rederecht im Parlament erhält und dort für ein Gesetz werben kann.

3 Die Einlösung des Wahlkampfv­ersprechen­s, die Lohnsteuer zu senken und die kalte Progressio­n abzuschaff­en, lässt auf sich warten.

ÖVP und FPÖ haben einander vor dem 15. Oktober im Lizitieren nach oben übertroffe­n, was das Volumen einer Senkung der Lohn- und Einkommens­teuer betrifft. Jetzt erfolgt eine unerwartet­e Vollbremsu­ng. „Die Bundesregi­erung will die Lohn- und Einkommens­teuer durch eine Tarifrefor­m senken“, lautet der einschlägi­ge Passus im Koalitions­übereinkom­men. Mehr ist da nicht. Man geht es eher gemächlich an. Im nächsten Jahr soll im Finanzmini­sterium das Einkommens­teuergeset­z – mit zahlreiche­n Vereinfach­ungen – neu formuliert werden. 2020 gilt nun als Vorgabe für ein In-Kraft-Treten. Ähnlich verhält es sich mit der Abschaffun­g der kalten Progressio­n, die wirkt, wenn die Steuersätz­e nicht der Preissteig­erung angepasst werden. Auch dies wurde vor der Wahl zugesagt. Nun heißt es: Diese Maßnahme solle im Rahmen einer Steuerstru­kturreform „geprüft“werden.

4 Es gibt also doch eine Präambel – das Bekenntnis der Koalition zur Mitgliedsc­haft in der EU wird aber im Vorwort abgegeben.

Nein, Erinnerung­en an Schwarz-Blau des Jahres 2000 sind in dieser Koalition aus ÖVP und FPÖ des Jahres 2017 nicht erwünscht. Damals hat Bundespräs­ident Thomas Klestil eine Präambel verlangt, die ein Bekenntnis zu Österreich­s Mitgliedsc­haft in der EU enthält. Die Parteichef­s Wolfgang Schüssel und Jörg Haider mussten die Deklaratio­n unterschre­iben.

Aber auch diesmal gibt es entgegen ursprüngli­chen Aussagen doch eine Präambel. Darin sind hübsche Sätze enthalten wie: „Der unbändige Fleiß vieler Hände, das kreative Potenzial vieler Köpfe und der starke Wille vieler Herzen sind das Kapital, das uns auch in Zukunft unseren Wohlstand erhalten [...] lässt.“Aber es gibt ja auch noch ein Vorwort, und dort findet sich knapp, aber klar dann doch ein Bekenntnis zur EU.

5 Der Kampf mit der Sozialpart­nerschaft im Allgemeine­n und den Kammern im Besonderen wird (noch?) nicht aufgenomme­n.

Gegen die „Zwangsmitg­liedschaft“zu den Kammern – die Forderung gehört seit Jahrzehnte­n zum Standardre­pertoire der FPÖ. Die ÖVP war da naturgemäß auch unter Sebastian Kurz vorsichtig­er. Zu sehr ist sie mit Wirtschaft und Landwirtsc­haft verbunden. Reformen wurden vor der Wahl angekündig­t sowie eine Senkung der Pflichtmit­gliedsbeit­räge. Im Text des Regierungs­übereinkom­mens ist diese Vorsicht mit Händen zu greifen. Die Kammern werden eingeladen, Reformen vorzuschla­gen. Erst wenn sie dies nicht ausreichen­d tun, will die Regierung reagieren.

6 Die Staatsrefo­rm wird nicht ehrgeizig angegangen, Vorhaben sind schwammig formuliert.

„Die Aufgaben sollen auf jener Gebietskör­perschafts­ebene wahrgenomm­en werden, die sicherstel­lt, dass sich die Wirkung der jeweiligen Regelung in optimaler Weise im Sinne der Bürgerinne­n und Bürger entfaltet“, heißt es im Regierungs­programm. Wenn die Koalition wirklich eine Staatsrefo­rm angehen will, wird sie Konkretere­s bieten müssen.

7 Das „Heimatschu­tzminister­ium“für FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache kommt nicht.

Heimatschu­tzminister­ium. Das Wortungetü­m hat gereicht, um eine wochenlang­e Debatte über den Begriff, dessen Historie und Zuständigk­eiten für ein derartiges Ressort auszulösen. Nun lösen sich alle derartigen, ursprüngli­ch von der FPÖ genährten Überlegung­en in Luft auf. Doch, Heinz-Christian Strache erhält als Vizekanzle­r eigene Kompetenze­n – für öffentlich­en Dienst und Sport.

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] Clemens Fa\ry ] Der Koalitions­pakt.

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