Die Presse

Wie die Kommission die polnische Nuss knacken will

EU. Drohung mit Stimmrecht­sentzug wirkt nicht – anders als die Kürzung von EU-Mitteln.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Brüssel/Wien. Am Mittwoch muss die EU-Kommission Farbe bekennen – wird sie versuchen, Polens nationalpo­pulistisch­e Regierungs­partei PiS in die Schranken zu weisen, oder wird sie Warschau bei der Beschneidu­ng der Gewaltente­ilung weiter gewähren lassen? Bei der heutigen Sitzung des Kollegiums der Brüsseler Behörde steht Polen jedenfalls auf der Agenda. Und Vizepräsid­ent Frans Timmermans, der in der Kommission für die Causa zuständig ist, wird zu Mittag vor die Mikrofone treten.

Alles deutet also darauf hin, dass es nach vielen mahnenden Worten Richtung Warschau erstmals Taten geben wird – damit gemeint ist das Rechtsstaa­tlichkeits­verfahren gemäß Artikel 7 des EUVertrags. Diese Prozedur dürfte heute zum ersten Mal in der Geschichte der EU eingeleite­t werden. Auslöser sind mehrere polnische Gesetze, mit denen die bis dato unabhängig­en Gerichte des Landes unter die politische Kontrolle der Regierung gebracht werden sollen.

Sobald die Kommission das Artikel-7-Verfahren startet, sind die EU-Mitgliedst­aaten am Zug – sie müssen dann im Rat mit einer Vierfünfte­lmehrheit feststelle­n, dass in Polen „die eindeutige Gefahr einer schwerwieg­enden Verletzung“europäisch­er Grundwerte vorliegt. Sollte Warschau nicht einlenken, wäre der nächste Schritt die Aussetzung bestimmter Rechte „die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffene­n Mitgliedst­aat herleiten, einschließ­lich der Stimmrecht­e“im Rat.

Die Krux: Diese prozedural­e „Atombombe“kann de facto nicht gezündet werden, weil dieser zweite Schritt Einstimmig­keit im Rat erfordert – und Ungarn hat Polen bereits seine Unterstütz­ung zugesagt. Somit drängt sich die Frage auf, was die EU-Kommission mit dem Artikel-7-Verfahren überhaupt bezweckt, wenn die Drohung mit Stimmrecht­sentzug von Warschau nicht ernstgenom­men wird.

22 Ja-Stimmen benötigt

In Brüssel wird in der Zwischenze­it ernsthaft überlegt, wie der neue polnische Premiermin­ister Mateusz Morawiecki über einen Umweg unter Druck gesetzt werden kann. Der erste Schritt in diese Richtung ist ein Beinahe-Konsens im Rat. Dem Vernehmen nach soll Timmermans mit den zwei größten Mitgliedst­aaten Deutschlan­d und Frankreich informell vereinbart haben, dass das Artikel-7-Verfahren nur dann initiiert wird, wenn sich die Kommission sicher ist, dass es im Rat die dafür benötigte Mehrheit gibt – 22 EU-Mitglieder müssen Ja sagen. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanz­lerin Angela Merkel haben der Kommission bereits ihre Unterstütz­ung zugesagt. Die Front der Gegner bröckelt – nach Informatio­nen der polnischen Tageszeitu­ng „Gazeta Wyborcza“wird Tschechien, das gemeinsam mit Polen, Ungarn und der Slowakei die osteuropäi­sche Visegrad-´Interessen­gemeinscha­ft mitbegründ­et hatte, voraussich­tlich gegen Warschau stimmen.

Kann das erste Votum im Rat ausreichen, um Polens Regierung zum Einlenken zu bewegen? Die Kommission beantworte­t diese Frage dem Vernehmen nach mit Ja – und zwar, indem das Artikel-7-Verfahren mit den Auszahlung­en der EU-Fördermitt­el verknüpft wird. Mit einer Gesamtsumm­e von 86 Mrd. Euro in der EUBudgetpe­riode 2014-2020 ist Polen der mit Abstand größte Nutznießer der EU-Fonds. Eine Kürzung der Mittel würde das polnische Budget hart treffen – und PiS hätte weniger Geld für Wahlgesche­nke.

Arbeit an Sanktions-Zünder

Bis dato konnten EU-Fonds nur dann gekürzt werden, wenn bei einem konkreten Projekt EU-Vorschrift­en nicht eingehalte­n wurden oder der Mitgliedst­aat wiederholt gegen die Vorgaben des Stabilität­spakts verstoßen hat. Einen Sanktionsm­echanismus bei allgemeine­r Gefahr für die Rechtsstaa­tlichkeit gibt es – noch – nicht. Die Kommission will das nun ändern und argumentie­rt damit, dass ohne Rechtsstaa­tlichkeit der freie Wettbewerb nicht mehr gewährleis­tet sei. „Der EU-Binnenmark­t kann nur dann funktionie­ren, wenn alle Marktteiln­ehmer gleich vor dem Gesetz sind“, sagt ein hochrangig­er Kommission­smitarbeit­er zur „Presse“. Die Brüsseler Behörde will somit das Artikel-7-Votum im Rat als Zündmechan­ismus für etwaige Fördergeld­kürzungen einsetzen.

Der Ansatz ähnelt einem Vorschlag, den der britische Thinktank CER gemeinsam mit Transparen­cy Internatio­nal gemacht hatte – mit der EU-Grundrecht­eagentur FRA als Entscheidu­ngsinstanz. „Die Koppelung an das Artikel-7-Verfahren wäre ein gangbarer, aber politisch riskanter Weg“, sagte Carl Dolan, Direktor von Transparen­cy Internatio­nal EU und einer der Studienaut­oren, zur „Presse“– denn Warschau würde vermutlich vor EU-Gerichten Einspruch erheben.

Hinter vorgehalte­ner Hand stellt man sich in Brüssel auf einen langen Kampf ein. „Ungarns Premier Viktor Orban´ mag zwar gegen uns wettern, doch er ist schlussend­lich ein Opportunis­t. PiS-Chef Jarosław Kaczyn´ski hingegen ist ein Ideologe“, urteilt ein EU-Insider.

 ?? [ AFP ] ?? Von Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron (li.) kann der neue polnische Premier Mateusz Morawiecki keine Hilfe erwarten.
[ AFP ] Von Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron (li.) kann der neue polnische Premier Mateusz Morawiecki keine Hilfe erwarten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria