Wie die Kommission die polnische Nuss knacken will
EU. Drohung mit Stimmrechtsentzug wirkt nicht – anders als die Kürzung von EU-Mitteln.
Brüssel/Wien. Am Mittwoch muss die EU-Kommission Farbe bekennen – wird sie versuchen, Polens nationalpopulistische Regierungspartei PiS in die Schranken zu weisen, oder wird sie Warschau bei der Beschneidung der Gewaltenteilung weiter gewähren lassen? Bei der heutigen Sitzung des Kollegiums der Brüsseler Behörde steht Polen jedenfalls auf der Agenda. Und Vizepräsident Frans Timmermans, der in der Kommission für die Causa zuständig ist, wird zu Mittag vor die Mikrofone treten.
Alles deutet also darauf hin, dass es nach vielen mahnenden Worten Richtung Warschau erstmals Taten geben wird – damit gemeint ist das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gemäß Artikel 7 des EUVertrags. Diese Prozedur dürfte heute zum ersten Mal in der Geschichte der EU eingeleitet werden. Auslöser sind mehrere polnische Gesetze, mit denen die bis dato unabhängigen Gerichte des Landes unter die politische Kontrolle der Regierung gebracht werden sollen.
Sobald die Kommission das Artikel-7-Verfahren startet, sind die EU-Mitgliedstaaten am Zug – sie müssen dann im Rat mit einer Vierfünftelmehrheit feststellen, dass in Polen „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“europäischer Grundwerte vorliegt. Sollte Warschau nicht einlenken, wäre der nächste Schritt die Aussetzung bestimmter Rechte „die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte“im Rat.
Die Krux: Diese prozedurale „Atombombe“kann de facto nicht gezündet werden, weil dieser zweite Schritt Einstimmigkeit im Rat erfordert – und Ungarn hat Polen bereits seine Unterstützung zugesagt. Somit drängt sich die Frage auf, was die EU-Kommission mit dem Artikel-7-Verfahren überhaupt bezweckt, wenn die Drohung mit Stimmrechtsentzug von Warschau nicht ernstgenommen wird.
22 Ja-Stimmen benötigt
In Brüssel wird in der Zwischenzeit ernsthaft überlegt, wie der neue polnische Premierminister Mateusz Morawiecki über einen Umweg unter Druck gesetzt werden kann. Der erste Schritt in diese Richtung ist ein Beinahe-Konsens im Rat. Dem Vernehmen nach soll Timmermans mit den zwei größten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich informell vereinbart haben, dass das Artikel-7-Verfahren nur dann initiiert wird, wenn sich die Kommission sicher ist, dass es im Rat die dafür benötigte Mehrheit gibt – 22 EU-Mitglieder müssen Ja sagen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel haben der Kommission bereits ihre Unterstützung zugesagt. Die Front der Gegner bröckelt – nach Informationen der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“wird Tschechien, das gemeinsam mit Polen, Ungarn und der Slowakei die osteuropäische Visegrad-´Interessengemeinschaft mitbegründet hatte, voraussichtlich gegen Warschau stimmen.
Kann das erste Votum im Rat ausreichen, um Polens Regierung zum Einlenken zu bewegen? Die Kommission beantwortet diese Frage dem Vernehmen nach mit Ja – und zwar, indem das Artikel-7-Verfahren mit den Auszahlungen der EU-Fördermittel verknüpft wird. Mit einer Gesamtsumme von 86 Mrd. Euro in der EUBudgetperiode 2014-2020 ist Polen der mit Abstand größte Nutznießer der EU-Fonds. Eine Kürzung der Mittel würde das polnische Budget hart treffen – und PiS hätte weniger Geld für Wahlgeschenke.
Arbeit an Sanktions-Zünder
Bis dato konnten EU-Fonds nur dann gekürzt werden, wenn bei einem konkreten Projekt EU-Vorschriften nicht eingehalten wurden oder der Mitgliedstaat wiederholt gegen die Vorgaben des Stabilitätspakts verstoßen hat. Einen Sanktionsmechanismus bei allgemeiner Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit gibt es – noch – nicht. Die Kommission will das nun ändern und argumentiert damit, dass ohne Rechtsstaatlichkeit der freie Wettbewerb nicht mehr gewährleistet sei. „Der EU-Binnenmarkt kann nur dann funktionieren, wenn alle Marktteilnehmer gleich vor dem Gesetz sind“, sagt ein hochrangiger Kommissionsmitarbeiter zur „Presse“. Die Brüsseler Behörde will somit das Artikel-7-Votum im Rat als Zündmechanismus für etwaige Fördergeldkürzungen einsetzen.
Der Ansatz ähnelt einem Vorschlag, den der britische Thinktank CER gemeinsam mit Transparency International gemacht hatte – mit der EU-Grundrechteagentur FRA als Entscheidungsinstanz. „Die Koppelung an das Artikel-7-Verfahren wäre ein gangbarer, aber politisch riskanter Weg“, sagte Carl Dolan, Direktor von Transparency International EU und einer der Studienautoren, zur „Presse“– denn Warschau würde vermutlich vor EU-Gerichten Einspruch erheben.
Hinter vorgehaltener Hand stellt man sich in Brüssel auf einen langen Kampf ein. „Ungarns Premier Viktor Orban´ mag zwar gegen uns wettern, doch er ist schlussendlich ein Opportunist. PiS-Chef Jarosław Kaczyn´ski hingegen ist ein Ideologe“, urteilt ein EU-Insider.