FRITZ RUBIN-BITTMANN
Das Jahr geht zu Ende. Was brachte es, was nahm es? Herbert Schwarz brachte es den Tod, mir hat es den Freund genommen. Porträt eines österreichischen Patrioten. Nachruf auch auf eine untergegangene Welt.
Geboren 1944 in einem Keller in WienLeopoldstadt. Überlebte mit seinen Eltern als „U-Boot“. Dr. med. Arzt für Allgemeinmedizin in Wien. 2017 Berufstitel „Professor“.
Mein Freund Herbert Schwarz, sein Spitzname war Blacky, verstarb heuer am 19. August in einem Wiener Krankenhaus im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und mit ungebrochenem Lebenswillen. Als er ins Spital eingeliefert wurde, war ich nicht in Wien. Zwei Tage später wurde ich von seiner Hospitalisierung benachrichtigt, ich fuhr unmittelbar zu ihm. Er war nicht bereit, länger im Krankenhaus zu bleiben, da er für seine in Los Angeles lebende Familie in einem Veldener Hotel Zimmer gebucht hatte. In Velden hatte er als Kind oft die Sommerfrische verbracht. Velden war und blieb sein Ferienort, und mit Vehemenz bestand er darauf, sich dort ambulant behandeln zu lassen. Es gelang mir mit Dina, seiner Hilfe, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
Die Familie in den Vereinigten Staaten wurde verständigt, dass aufgrund der plötzlichen Erkrankung der Ferienbesuch in Velden um etwa drei Wochen verschoben werden müsse. Dazu kam es nicht mehr, da sich Herberts Gesundheitszustand verschlechterte. Einer der behandelnden Oberärzte, Vorstand der Ethikkommission dieses Krankenhauses, verwies mich auf das Alter des Patienten (93 Jahre): „Es ist wie bei einem alten Automotor, einmal muss er aufhören zu arbeiten.“Meinen Einwand, dass Herbert kein Motor, sondern ein Mensch mit Würde und Anrecht auf Überleben sei, tat er mit einer Handbewegung ab. Der alte Mensch, denke ich, verliert eines der größten Menschenrechte, nämlich von seinesgleichen beurteilt zu werden. Mit dem Verlust der Würde ist der Lebenswert reduziert. Meine Bemühung, eine Dialyse, die auch Herbert wünschte, zu versuchen, scheiterte. „Ethik“: ein Euphemismus für „Entsorgung“.
Trotz seines hohen Alters war Herbert vielseitig aktiv. Er war ein gefragter Vortragender und gab regelmäßig in- und ausländischen Medien Interviews. Knapp vor seiner Einlieferung ins Spital wurde noch eine Fernsehproduktion über sein Leben fertiggestellt. Denn seine Biografie reflektiert die Conditio Judaica des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert. Er war humorvoll, generös, ein Mann mit dem Charisma jener jüdischen Altösterreicher, die unabhängig im Denken und Handeln waren. Diese Menschen hatten viel zu Österreichs Ansehen und Ruhm in Kultur und Wissenschaft beigetragen.
Mein Freund entstammte einer wohlhabenden Wiener jüdischen Familie, die in der Wallnerstraße gleich beim Kohlmarkt wohnte. Er verbrachte eine behütete Kindheit. In Gesprächen kamen immer wieder Erinnerungen an diese Zeit zum Vorschein und an die vernichtete Welt des jüdischen Bürgertums. Sein Vater war Chemiker, Fabrikant und als österreichisch-jüdischer Patriot Offizier in der österreichischen Armee. Seine Mutter stammte aus einer Prager jüdischen Familie, musisch, mehrsprachig, eine gute Klavier- und hervorragende Bridgespielerin. Herberts Großvater war Kaufmann, kaisertreu, Offizier in der k. u. k. Armee.
Die Familie Schwarz war exemplarisch für jene österreichischen Juden, die Aufklärung und Weltoffenheit mit den großen hiesigen Traditionen verbanden. Sie hielten dem Haus Habsburg die Treue, auch eingedenk des Schutzes, den Kaiser Franz Joseph ihnen gewährte. Man war, im Sinne von Hofmannsthal und Wildgans, erfüllt von „Österreichbewusstsein“, der supranationalen Idee „Österreich“. Großvater und Vater und später auch Herbert waren dankbar für den bürgerlichen Aufstieg, den ihnen die Monarchie gewährt hatte, und sie blieben auch in der Ersten Republik Legitimisten.
In der Verwandtschaft von Herberts Familie war der Komponist Bruno Granichstaedten. Zu dessen bekanntesten musikalischen Einlagen gehört „Zuschau’n kann i net“für den Part des Zahlkellners Leopold im „Weißen Rößl“von Ralph Benatzky. Entfernt verwandt waren auch die Premingers. Max Preminger war ursprünglich ein gefürchteter Staatsanwalt – der wegen antisemitischer Drohungen den Staatsdienst quittierte und einer der renommiertesten Strafverteidiger in der Ersten Republik wurde. Sein Sohn, Otto Preminger, konnte in die Vereinigten Staaten emigrieren und machte mit „Anatomie eines Mordes“und „Bonjour Tristesse“Filmgeschichte.
Herbert ging aufs Gymnasium. Während der katholischen Religionsstunden blieb er in seiner Klasse in der letzten Reihe, machte diverse Hausaufgaben und hörte zeitweise mit Interesse zu. Er kannte eine Reihe christlicher Gebete: ein Umstand, der ihm später im Ghetto von Riga das Leben retten sollte. Für ihn brach die Welt zusammen, als er in der dritten Klasse Gymnasium, es war März 1938, plötzlich beschimpft, gedemütigt und von der Schule verwiesen wurde. Er besuchte dann ein Jahr lang im dritten Bezirk in der Sechskrügelgasse eine sogenannte Judenschule.
Die Familie Schwarz war über Nacht vogelfrei, entrechtet, enteignet. Die väterliche Fabrik wurde arisiert, der Vater, in Offiziersuniform, verhaftet – und nach Buchenwald verschleppt. Herbert sollte ihn nicht wiedersehen. Noch heute besitzt die Familie das Telegramm mit der Nachricht von seinem Tod und mit der Aufforderung, acht Reichsmark zu zahlen, zwecks Zusendung der Urne. Herberts Mutter überwies die acht Reichsmark, nach zwei Wochen kam ein kleiner Behälter, der alles enthielt, was vom Vater übrig war.
Ein SS-Trupp brach in die Wohnung ein, plünderte, vertrieb. Die einst wohlhabende Familie Schwarz stand vor dem Nichts. In den „Judenhäusern“waren jeweils sechs Familien eingepfercht. Die Israelitische Kultusgemeinde veranstaltete berufsbildende Kurse, die auch Herbert besuchte. Er erlernte das Tischlerhandwerk. Herbert und seine Mutter kamen unter Mitnahme eines Koffers in das Sammellager Sperlgasse.
Der Massenmord war auf ein ausgeklügeltes System der Irreführung der Opfer aufgebaut: Durch die etappenweise Entrechtung passten die Juden sich der jeweiligen erzwungenen Lebenssituation an – in der Hoffnung zu überleben. Sie gaben sich der Illusion hin, dass Zwangsarbeit in Rüstung, Fabriken und Landwirtschaft ihr Überleben gewährleisten würde. Aber gerade diese Logik narrte die Juden, denn ihre Vernichtung war entgegen aller Rationalität als Notwendigkeit im Sinne der Rassenideologie geplant. Die Nazis hatten den Überlebenswillen der Juden ins Kalkül gezogen, auf dass der Mord mit dem geringstmöglichen Widerstand erfolgen konnte. – Im Spätherbst 1941 ging die „Reise“für Herbert und seine Mutter nachts vom Aspanger Bahnhof aus nach Riga, mit etwa tausend weiteren Schicksalsgenossen, ins Ghetto. Menschen wurden täglich in Arbeitskommandos eingeteilt und hatten in Rüstungsbetrieben, bei der Reichsbahn, in Steinbrüchen, im Wald Arbeiten durchzuführen. Die Kommandos wurden jeden Tag neu organisiert. Bei Regelverstößen gab es Strafe, Männer wurden erhängt, Frauen erschossen. Bei einem Kommando am Hafen hatte der unter der schrecklichen Kälte leidende Herbert einen Pullover an sich genommen. Ein SSMann sah dies, versetzte ihm einige Hiebe und sagte, dass er es dem Lagerkommandanten Krause melden würde. „Für diesen Diebstahl wirst du gehängt.“Herbert bettelte um Gnade, und plötzlich kam ihm die Idee, Krause zu sagen, er könne einige christliche Gebete auswendig. Der Lagerkommandant war amüsiert. Er ließ Herbert die Gebete, die er vom Zuhören in der Religionsstunde im Gymnasium kannte und im Gedächtnis behalten hatte, aufsagen. „Du hast Glück gehabt, ich lasse Gnade vor Recht ergehen.“
Vom Ghetto kamen Herbert und seine Mutter in das KZ Kaiserwald in der Nähe von Riga. In diesem Sumpfgebiet konnte man nur von fünf Uhr früh bis zehn Uhr vormittags arbeiten, danach war es wegen der unvorstellbaren, in den Wahnsinn treibenden Mückenplage unmöglich. Typhus-Epidemien brachen aus, die Menschen starben wie die Fliegen. An seinem Geburtstag, am 3. März 1944, bekam Herbert von seiner Mut- ter einen Laib Brot geschenkt. Es war für ihn das schönste Geschenk seines Lebens, und oft fragte er sich, wie seine Mutter, die selbst an Hunger litt, sich dieses Brot hatte aufsparen können.
Mit dem Heranrücken der Roten Armee wurde das KZ Kaiserwald aufgelöst. Herbert und seine Mutter wurden auf ein Truppenschiff verladen, wo sie mehrere Tage und Nächte ohne Verpflegung und Wasser eingesperrt waren. Beim Verlassen des Schiffes, das die Menschen in das KZ Stutthof in der Nähe von Danzig transportiert hatte, sah Herbert dann seine Mutter das letzte Mal. Vermutlich war sie unter den 7000 jüdischen Frauen und Mädchen aus dem Außenlager des KZ Stutthof, die im Jänner 1945 zum Todesmarsch zur Bernsteinküste an der Ostsee getrieben wurden. Vielleicht aber auch erreichte sie den Ort Palmnicken, wo am Strand ein Massaker stattfand. Beabsichtigt war ursprünglich gewesen, die Frauen in ein Bernsteinlager einzumauern und verhungern zu lassen. Nur 15 Frauen überlebten.
Nach etwa einer Woche im KZ Stutthof wurden Herbert und andere Juden in Viehwaggons Richtung Buchenwald verladen. Wie lange die Reise dauerte, wusste er nicht mehr, da er jeglichen Zeitbegriff, jegliche Orientierung verloren hatte. Buchenwald bestand aus einem großen und einem kleinen Lager. Herbert kam in das kleine, das Durchgangslager, von wo er in einem Viehwaggon mit der Bahn in das Außenlager Zeitz gebracht wurde. Hier betrieben die Nazis eine Fabrik zur synthetischen Herstellung von Benzin. Sie waren aufgrund des Benzinmangels auf diese Methode für ihre weitere Kriegsführung angewiesen. Diese Fabrik war ein riesiges Gelände, mit einem System aus Behältern, die in der Luft hingen und durch Rohre miteinander in Verbindung waren. Die Alliierten hatten Kenntnis davon und bombardierten die Anlage.
Einmal wurde Herbert von einem Bombensplitter am Arm getroffen. Die Wunde begann zu eitern, er hatte Schmerzen, Fieber. Dennoch ging er weiterhin zur Arbeit, da man ihn sonst erschossen hätte. Durch Glück kam er auf einen Transport für Verletzte zurück nach Buchenwald. Er befürchtete, dass man seinen Arm amputieren würde, der schmerzhaft angeschwollen, vereitert und verlaust war. Ein Arzt hat mit einem Taschenmesser, dessen Klinge er vorher erhitzt hatte, ohne Narkose den Arm aufgeschnitten, damit Eiter ausrinnen konnte. Herbert war entsetzt, als er im Eiter Hunderte Läuse sah. Er musste sich übergeben. Jahrzehnte später hat ein amerikanischer Arzt, der ihn auf die Narben auf dem Arm ansprach, erklärt: „Die Läuse haben Ihnen das Leben gerettet, denn sie haben sich vom Eiter ernährt. Sie wären sonst an den Giftstoffen im Eiter verstorben.“
Zufällig half ihm in Buchenwald ein Lagerpolizist, den er von seinem ersten Aufent- halt in Buchenwald kannte. Er rief ihm zu: „Blacky, komm!“– und verhinderte so, dass Herbert wieder nach Zeitz transportiert wurde. Er hat Herbert gerettet. Jahre später, nach Krieg und Befreiung, wollte Herbert diesem Mann Dank sagen, konnte ihn aber nicht ausfindig machen. Als er bereits in Wien war, gelang es ihm, die Adresse zu eruieren. Sein Retter war Redakteur bei einer bayerischen Zeitung. Herbert fuhr nach Bayern.
Im April 1945 hatte Herbert wieder Wiener Boden betreten, er suchte nach Freunden, Bekannten, Verwandten, doch Wien war für ihn wie eine tote Stadt. Fast keiner der Menschen, die er kannte, war da. Herbert hatte in Buchenwald nur 37 Kilo gewogen und sich mit Tuberkulose infiziert. Nun fand er Arbeit als Fotoreporter bei einer alliierten Zeitung. Seine Vorgesetzten waren Ernst Haeusserman und Marcel Prawy.
1949 verließ Herbert Österreich, um in den Vereinigten Staaten ein neues Leben zu beginnen. Es war ein Abenteuer, da er ohne Geld und ohne englische Sprachkenntnisse nach Los Angeles kam. Insgeheim dachte er sich, es ist ein Neustart, es ist den Versuch wert, ich habe nichts zu verlieren, und wenn es nicht klappt, kann ich zurückkehren.
Er war auf sich selbst gestellt. Im Gegensatz zur heutigen Migration gab es weder Mindestsicherung noch kostenlose Wohnung oder Gratisbehandlung in Spitälern. Ohne Geld, ohne Verwandte, ohne Beruf, ohne Arbeit, ohne Sprache schien es ein aussichtsloses Unterfangen zu sein, Fuß zu fassen. Durch Beharrlichkeit, ungeheuren Fleiß und seinen scharfen Verstand gelang es ihm, vorerst als Hilfsarbeiter durchzukommen, Englisch-Abendkurse zu absolvieren und sich sukzessive hinaufzuarbeiten. Oft hat er zwei Tage nichts gegessen, er gab nicht auf.
Herbert, der bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten außer einem kleinen Koffer und den Kleidern, die er auf dem Leibe trug – er hatte nicht einmal eine zweite Hose –, nichts besaß, verbesserte zusehends seine Position. Er erhielt eine Anstellung bei einer Plastikfirma, wo er zum Einpacken und Sortieren der Ware eingeteilt wurde, und verdiente einen Dollar die Stunde. Er wohnte vorerst zur Untermiete bei einer ehemaligen Wiener Familie, deren Sohn ein Schulfreund aus der gemeinsamen Gymnasialzeit in Wien war. Er heiratete in New York ein jüdisches Mädchen aus Wien, namens Ditta, das den Nationalsozialisten durch einen Kindertransport nach England entkommen war. In der Plastikfirma, in der er als Hilfsarbeiter begonnen hatte, wurde er nach einigen Jahren Verkaufsleiter und Teilhaber mit einem stabilen Einkommen von 460 Dollar im Monat. Eines Tages kam es zu einem Brand, und seine Arbeitsstelle ging verloren. Er beherrschte jetzt die englische Sprache, hatte Familie und beschloss, sich selbstständig zu machen. Er hat einige Erzeugungsfirmen und Fabriken vertreten und mit diese Tätigkeit gut verdient. Dank seiner unternehmerischen Fähigkeiten baute er ein kleines Firmenimperium auf, bereiste die Welt, war viel in China tätig, von wo er Beleuchtungskörper in die USA lieferte. Mein Freund wurde wohlhabend.
Und doch. Es stieg die Sehnsucht nach der alten Heimat, nach Wien und den Orten seiner Kindheit. Anfangs verbrachte er mit seiner Familie jährlich einen Monat in Österreich, teils in Wien, teils in Velden. Seinem Sohn Bob übergab er nun die Firma und beschloss, mit seiner Frau jeweils ein halbes Jahr im Sommer in Wien zu leben und ein halbes Jahr im Winter im klimatisch milderen Los Angeles.
Er etablierte auch die sogenannte Mittwochrunde in einem Wiener Cafe´ in der Innenstadt. Jeden Mittwoch trafen (und treffen) einander dort betagte jüdische Herren, die bereits in der Vorkriegszeit in Wien gelebt hatten und der Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten auf teils abenteuerliche Weise entgangen waren. Diese Mittwochrunde wurde regelrecht zu einer Institution, aufgesucht auch von interessierten Historikern.
Mein Freund Herbert war ein außergewöhnlicher Mensch mit einem außergewöhnlichen Schicksal. Er war, das scheint mir wichtig, ein bescheidener Mann. Trotz Verfolgung, die ihm und seiner Familie angetan wurde, blieb er seiner Heimat in Liebe verbunden, lebenslang. In seiner Haltung erinnert er mich an Joseph Roth, dessen jüdisch-österreichischer Glaube die schönsten Dichtungen über Österreich hervorgebracht hat, an eine nostalgische Apotheose. In diesem Sinne war auch Herbert geprägt als jüdischer Patrizier und österreichischer Patriot – ein Homo Austriacus Judaicus. Q
„Es ist wie bei einem alten Automotor, einmal muss er aufhören zu arbeiten“, meinte der behandelnde Oberarzt, Vorstand der Ethikkommission.