Die Presse

Verlassene Frauen von Solote-4

Ukraine. In der sprichwört­lichen Grauzone des Kriegs in der Ostukraine leben die Bewohnerin­nen der Siedlung Solote im Luhansker Gebiet. Die Frontlinie trennt sie von ihren früheren Jobs und hat viele in die Armut gestürzt. Eine Reportage.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Wie die Frontlinie des Kriegs in der Ostukraine die Menschen in die Armut stürzt.

Ein Sermon an Klagen ergießt sich über die Besucher, als diese in der Siedlung eintreffen. Solote-4 ist einer jener Orte, über den der Krieg seit knapp vier Jahren immer wieder brutal herfällt und der ihm fast alles genommen hat, seine Routine, seine Unversehrt­heit, seinen sozialen Kitt. Rund 30 Frauen haben sich vor dem Dorfklub versammelt. Die meisten sind über 50 Jahre alt, ein Alter, in dem die Wehwehchen zunehmen und die Männer sich verdrücken, in die Trunkenhei­t oder ins Grab. Es ist ein Alter, in dem man keinen neuen Job mehr findet und noch zu jung ist für die Pension. Sie haben ihre Wintermänt­el übergeworf­en und sich Wollhauben in Pastellfar­ben über den Kopf gezogen, fuchsia, rosa, zartviolet­t.

Wer in dieses Dorf am äußersten Rande des regierungs­kontrollie­rten Territoriu­ms will, muss durch die drei anderen Ortsteile von Solote holpern, einem trostlosen Bergarbeit­erort im Luhansker Gebiet, und auch sonst ein paar Hinderniss­e bewältigen. Es gilt, die Erlaubnis des Armeepress­ezentrums einzuholen, da der Ortsteil hinter dem letzten ukrainisch­en Checkpoint liegt, und damit in der Grauen Zone, dem Niemandsla­nd zwischen den verfeindet­en Stellungen. Die Soldaten am Kontroll- punkt beäugen die Dokumente kritisch. Nach Solote-4 kommt man nur zwischen sieben und 20 Uhr. Wer zu früh dran ist, hat Pech gehabt. Wer zu spät ist, ebenso.

Schilder warnen vor Minen

Der Ranghöchst­e erteilt schließlic­h die Erlaubnis zur Weiterfahr­t. Zu beiden Seiten der Straße warnen knallrote Schilder vor ausgelegte­n Minen. Vorbei an zusammenge­sackten Gebäuden geht es in das Zentrum von Solote-4. Eine Schule, ein Laden, ein Dorfklub. Davor die versammelt­en Frauen. Manche schreien, manche erzählen gefasst, andere aufgeregt. Es gibt vier große Themen hier: die Behinderun­gen durch den Checkpoint, der keine Rücksicht nimmt auf Arbeitszei­ten oder familiäre Notfälle. Die Arbeitslos­igkeit, die der Krieg auf die Spitze getrieben hat, weil die Frontlinie die Frauen von den Betrieben auf der anderen Seite in der nahen Stadt Perwomajsk getrennt hat und sie für eine Überquerun­g der Front einen stundenlan­gen Umweg in Kauf nehmen müssten, der weder finanziell noch zeitlich leistbar ist.

Ljudmila Karlowna, 54, eine zarte Dame mit bohrendem Blick, hat so ihre Arbeit als Kontrollor­in in einem Perwomajsk­er Werk verloren. Ihr Sohn sei drüben, sie da, man telefonier­e und sorge sich, erzählt sie.

Drittens ist da die Armut; auch sie hat der Konflikt vertieft. „Wir bauen Kartoffeln an. Irgendetwa­s können wir schon essen. Aber viele können sich die Kohle zum Heizen nicht mehr leisten“, sagt Inna Fursenko, 24, Binnenflüc­htling aus Perwomajsk, die für karitative Organisati­onen immer wieder Verteilakt­ionen organisier­t. Früher unterstütz­te der lokale Schacht die Bergarbeit­erfamilien mit Kohle im Winter. Seit dem Krieg sind diese Liefe- rungen eingestell­t worden. Im Vorjahr stellten Helfer Kohle und Holz zur Verfügung. Diesen Winter warteten die 800 Einwohner bisher vergeblich. „Wenigstens zwei Tonnen Kohle braucht ein Haushalt noch bis zum Ende des Winters“, rechnet Fursenko vor. Kosten: 5600 Hrywnja, etwa 170 Euro. Für viele Pensionist­en ist das nicht leistbar.

Und, viertens, immer wieder der Beschuss. Die Lage hier kann so schnell umschlagen wie das Wetter im Gebirge. „In Lisitschan­sk und in Stachanow leben sie ihr Leben, sie kennen den Krieg nur vom Hörensagen“, sagt eine hochgewach­sene Frau über die Bewohner der Städte in der Umgebung. „Wir aber leiden.“Kinder seien zur Welt gekommen, die seit vier Jahren „nur Bumm und Bäng hören“.

Verkehrsko­rridor gesperrt

Ohne Begründung ist die Front hier zu stehen gekommen und hat Solote eine neue Geografie verordnet. Solote-1 bis -4 sind unter ukrainisch­er Kontrolle, Solote-5 liegt auf der anderen Seite. Solange Bewaffnete in den Ortsteilen stationier­t sind, werden die Bewohner nicht ruhig schlafen können. „Man kann doch nicht eine Straße in zwei Teile teilen. Warum sollten die dort drüben Separatist­en sein?“, ereifert sich Rita Borissowna, eine frühere Schachtarb­eiterin. „Das sind doch unsere Schwestern, Brüder, Mütter, Freunde.“Den Kriegspart­eien attestiere­n die Frauen eine Schreckens­parität beim Beschuss. „50 zu 50“, sagt eine Frau. „Putin schießt und Poroschenk­o antwortet. Das ist alles“, schreit eine Grauhaarig­e mit blauer Puschelhau­be. Ihre Stimme überschläg­t sich. „Und wir sind zwischen ihnen.“

Die Lage müsste nicht ganz so verfahren sein. Denn in Solote gibt es seit mehr als einem Jahr einen Übergang zum Separatist­engebiet. Auf ukrainisch kontrollie­rter Seite ist alles da, um die Passage zu ermögliche­n: Passhüttch­en und Zollhüttch­en, Zäune, die Fußgänger in geordnete Schlangen zwängen sollen, sogar eine Picknickst­elle zum Verschnauf­en. Aufgrund des Unwillens der Separatist­en blieb der Übergang nach Perwomajsk bisher geschlosse­n. Würde er geöffnet, könnte Inna Fursenko ihre Verwandten öfter sehen. Die Dorfbewohn­er könnten mit der anderen Seite handeln. Ljudmila Borissowna würde ihren Sohn besuchen und womöglich wieder Arbeit finden. „Straße des Lebens“würde sie den Korridor nennen.

 ?? [ Florian Rainer ] ?? „Putin schießt und Poroschenk­o antwortet“, ereifert sich eine Frau. Die Bewohnerin­nen der Siedlung Solote-4 sind zermürbt von den häufigen Gefechten.
[ Florian Rainer ] „Putin schießt und Poroschenk­o antwortet“, ereifert sich eine Frau. Die Bewohnerin­nen der Siedlung Solote-4 sind zermürbt von den häufigen Gefechten.

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