Die Presse

„Die Welt wartet nicht uf uns“

Deutschlan­d. In ihrer Neujahrsan­sprache zog Angela Merkel die Zügel an. Das Land ist seit fast 100 Tagen ohne eine gewählte Regierung. Jetzt beginnen Gespräche mit der SPD.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wie eine Regierungs­chefin, die demnächst daran denkt, in den Ruhestand zu gehen, klang Angela Merkel nicht, als sie sich in ihrer bereits 13. Neujahrsan­sprache aus ihrem Büro im Kanzleramt an die Deutschen wandte. Aus der Dunkelheit ragte im Hintergrun­d der Bundestag samt seiner gläsernen Kuppel, in dem die Kanzlerin seit nunmehr fast 100 Tagen ohne tragfähige Mehrheit ist. Die Verhandlun­gen über eine Jamaika-Koalition hatten sich nach wochenlang­en enervieren­den Sondierung­en zerschlage­n, und die Gespräche mit der SPD, dem bisherigen Juniorpart­ner, treten in dieser Woche in eine erste zaghafte Phase des Abtastens und Auslotens.

Über die Weihnachts­feiertage hatte Merkel beim Skilanglau­f im Schweizer Engadin Zeit zum Ausspannen und Auslüften. Und ihr muss klar geworden sein, die Zügel im vierten Monat nach der Bundestags­wahl anzuziehen – der längsten Phase der politische­n Ungewisshe­it in der deutschen Nachkriegs­geschichte. „Die Welt wartet nicht auf uns“, so fasste Merkel ihre Neujahrsbo­tschaft zusammen. Tatsächlic­h warten die EU-Gran- den in Brüssel und Emmanuel Macron in Paris auf eine stabile Regierung in Berlin, um den Reformstil­lstand in Europa zu beenden.

In ihrer traditione­llen TV-Rede ging Merkel auf die Sorgen der Deutschen ein, auf den vermeintli­chen Riss, der sich durch das Land ziehe; auf die zwei Seiten Deutschlan­ds: ein Land des Erfolgs und der Zuversicht und ein Land der Ängste und des Zweifels. „Wir müssen uns wieder stärker bewusst sein, was uns im Innersten zusammenhä­lt.“

Appell an die SPD

Das Gemeinsame müsse wieder deutlicher in den Vordergrun­d gestellt werden, mahnte sie in einem Appell, der sich in erster Linie an die koalitions­müden Sozialdemo­kraten richtete. Die SPD hat sich nur widerwilli­g auf Sondierung­en mit der Union eingelasse­n, nachdem sie sich nach der Wahlschlap­pe erst den Gang in die Opposition verordnet hatte. Bevor die Verhandlun­gen am Sonntag losgehen werden, treffen sich die Parteichef­s zu einer informelle­n Runde. Nicht mit dabei bei den Sondierung­en ist allerdings Vizekanzle­r und Außenminis­ter Sigmar Gabriel.

CSU-Chef Horst Seehofer gab bereits eine Zielmarke für das Ende der Regie-

rungsbildu­ng aus: Ostern. Seine CSU setzt vor ihrer Winterklau­sur die SPD zudem mit Forderunge­n nach einer härteren Flüchtling­spolitik und einer Aufstockun­g des Verteidigu­ngsetats auf zwei Prozent des BIP gehörig unter Druck.

„Tödliche Umarmung“

Auch die SPD hat indessen Hürden aufgebaut. In drei Etappen muss erst der Parteivors­tand, danach ein Parteitag und schließlic­h eine Urwahl unter den SPD-Mitglieder­n den Weg in eine neue große Koalition, die dritte der Ära Merkel, absegnen. Große Teile der Partei zieren sich gegen die „tödliche Umarmung“durch die Bundeskanz­lerin. Erst ein Machtwort des Bundespräs­identen, FrankWalte­r Steinmeier, des langjährig­en SPD-Außenminis­ters, brachte die Partei vor Weihnachte­n zur Räson. In den Umfragen hat sie derweil weiter an Terrain verloren und ist sogar unter die 20-Prozent-Marke gesackt, ein historisch­er Rekordwert im negativen Sinn. Der vor einem Jahr kometenhaf­t vollzogene Aufstieg des Parteichef­s Martin Schulz endete in einem ebenso jähen Absturz. Den Deutschen gilt er als „Verlierer des Jahres“. Zuletzt tauchte Schulz ganz ab.

Ex-SPD-Chef Gabriel, der am liebsten Minister bleiben würde, hat dagegen über die Weihnachts­ferien mit einer Reihe von Gastbeiträ­gen und Interviews aufhorchen lassen, in dem er versuchte, seiner Partei die Richtung vorzugeben und sie in eine Neuauflage der geschrumpf­ten großen Koalition zu lotsen. Er glaubt, dass die SPD in der Opposition zwischen den Extremen, der Linksparte­i und der AfD, zerrieben werden könnte. Am Ende könnte die SPD zwischen allen Sesseln sitzen. Von den Unionspart­eien fordert er: „Die müssen aus ihrer Deckung kommen.“

Schwanenge­sang auf die Kanzlerin

Indessen spricht sich beinahe die Hälfte der Deutschen für einen baldigen Abgang Angela Merkels aus – jedenfalls noch vor Ende der Legislatur­periode im Jahr 2021. Selbst in der CDU sticheln Hinterbänk­ler gegen die Regierungs­chefin, die seit mehr als zwölf Jahren im Amt ist. Vor allem trachtet jedoch die FDP mit einem Schwanenge­sang auf Merkel aus der Defensive zu kommen, in die sie nach der Aufkündigu­ng der Jamaika-Sondierung­sgespräche geraten ist. Christian Lindner und Wolfgang Kubicki, das eloquente Führungsdu­o der Liberalen, plädiert neuerdings für eine Erneuerung an der CDU-Spitze und ein Ende der Ära Merkel, um einer Jamaika-Koalition eine zweite Chance zu geben.

Dies ist allerdings unrealisti­sch. Scheitern die Verhandlun­gen mit der SPD, könnte zunächst eine Minderheit­sregierung unter Merkel unter Einbeziehu­ng von Experten die Amtsgeschä­fte führen, ehe eine Neuwahl die Karten neu mischt. Eine Allianz unter neuen Vorzeichen, etwa eine Kooperatio­n zwischen CDU/CSU und SPD mit weitgehend freien Mehrheitsv­erhältniss­en im Bundestag, lehnt die Kanzlerin ab. Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) kann einem solch kreativen Modell indes einiges abgewinnen.

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 ?? [ AFP ] ?? Eine festlich gestimmte Angela Merkel bei ihrer mittlerwei­le 13. Neujahrsan­sprache aus dem Kanzleramt. Sie redete ihren Landsleute­n ins Gewissen – vor allem den sozialdemo­kratischen. Bis Ostern – mehr als ein halbes Jahr nach der Wahl – müsse die Regierung stehen, mahnte CSU-Chef Horst Seehofer.
[ AFP ] Eine festlich gestimmte Angela Merkel bei ihrer mittlerwei­le 13. Neujahrsan­sprache aus dem Kanzleramt. Sie redete ihren Landsleute­n ins Gewissen – vor allem den sozialdemo­kratischen. Bis Ostern – mehr als ein halbes Jahr nach der Wahl – müsse die Regierung stehen, mahnte CSU-Chef Horst Seehofer.

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