„Sozialismus mit iPad“für die Briten
Großbritannien. Die Labour Party macht eine wirtschaftspolitische Kehrtwende nach links und punktet damit gerade bei den Jungen, die den Anschluss an die Generation vor ihnen verlieren.
London. Die Zeiten, als die britische Labour Party nach dem Muster sozialdemokratischer Parteien Westeuropas um Gunst und Vertrauen der Wirtschaft buhlte, sind vorbei. Als die US-Bank Morgan Stanley kürzlich die Aussicht, dass LabourChef Jeremy Corbyn neuer britischer Premierminister werden könnte, als „größere Gefahr als den Brexit“für das Land bezeichnete, schoss der Oppositionsführer umgehend zurück: „Wenn sie sagen, dass wir eine Gefahr sind, haben sie recht. Wir sind eine Gefahr für ein schädliches und gescheitertes System, das auf den Vorteil einer kleinen Gruppe ausgerichtet ist.“
Corbyn lässt keinen Zweifel daran, dass er die vergangenen 30 Jahre von „New Labour“für einen großen Fehler hält. Anstelle der Anpassung der Politik an die Wirtschaft setzt er auf Lenkung der Wirtschaft durch die Politik. Sein engster politischer Verbündeter und Vertrauter seit 35 Jahren ist John McDonnell, der als SchattenSchatzkanzler die Wirtschaftspolitik der führenden Oppositionspartei bestimmt. McDonnell, ein Gewerkschaftshaudegen aus Liverpool, bezeichnet sich nicht nur als „überzeugten Leninisten“, sondern auch sein politisches Denken als „geprägt von den führenden marxistischen Denkern Marx, Lenin und Trotzki“.
„Sie werden auf uns losgehen“
Anders als die sozialistischen Überväter will heute Labour den Kapitalismus – „den man nicht verstehen kann, wenn man nicht ,Das Kapital‘ von Marx studiert hat“, wie McDonnell meint – nicht abschaffen, aber ihm Zügel anlegen. „Das neoliberale Modell ist gescheitert“, erklärt Corbyn wieder und wieder. Labour will die größten Privatisierungen (Bahn, Strom, Gas, Wasser und Post) rückgängig machen, die Körperschaftssteuer von 19 auf 26 Prozent anheben, Großunternehmen höher besteuern als Kleinbetriebe und den Spitzensteuersatz von 45 auf 50 Prozent anheben.
Das wird nicht ausreichen, um die versprochene Abschaffung der Studiengebühren, 250 Mrd. Pfund (281 Mrd. Euro) für den öffentlichen Dienst und Infrastrukturinvestitionen in derselben Höhe zu finanzieren. Während nervöse Investoren das Ende des freien Kapitalmarkts fürchten, räumte McDonnell am letzten Parteitag von La- bour ein, dass man mit erheblichen Schwierigkeiten rechne: In „Kriegsspielen“habe man die Folgen eines Runs auf das Pfund und eines Abzugs von Kapital durchgerechnet. „Sie werden auf uns losgehen“, warnte McDowell die Genossen.
Doch Labour will auf Kurs bleiben: „Wir werden eine 180-GradWende vom Kurs der letzten 30 Jahre vornehmen“, sagte Corbyn. „Unsere Politik wird der Arbeit Vorrang gegenüber dem Kapital einräumen.“Die Frage, wie sich das finanziell ausgehen soll, wischt McDonnell ungeduldig zur Seite: „Für so etwas gibt es Berater mit iPads“, erklärte er. Der Politikprofessor Mark Wickham-Jones von der University of Bristol meint: „Labour ist heute eine linke Partei mit einer linken Mitgliedschaft und mit Un- terstützung der Gewerkschaften und einer institutionellen Struktur, die sich nach links verschiebt.“
Trotz ihres Radikalismus sieht sich die Partei damit im Aufwind. Denn Labour ist es gelungen, die wunden Punkte in der britischen Gesellschaft zu identifizieren. Die Milliarden, die für die Rettung der Banken nach dem Crash 2008 ausgegeben wurden, fehlen an allen Ecken und Enden. Die Lebensstandards sind heute niedriger als vor zehn Jahren, nach einer kurzen Erholung sinken die Realeinkommen schon wieder. „Erhebliche Teile der Bevölkerung haben den Eindruck, dass sie zurückbleiben“, schrieb die Social Mobility Commission in einem Bericht im Juni und warnte vor „wachsender Ungleichheit“.
Nirgendwo ist die Spaltung so krass wie zwischen den Generationen: Nach Berechnungen des Thinktanks Resolution Foundation hat die Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen 15 Prozent weniger Einkommen als die 55- bis 64-Jährigen zur Verfügung, verlässt die Universitäten im Schnitt mit 50.000 Pfund Schulden für Studiengebühren, die sie die nächsten 30 Jahre abzahlen muss, und lebt vier Mal öfter in Miet- statt in Eigentumswohnungen als die Vorgängergeneration. Wer heute in den Arbeitsmarkt eintritt, verdient weniger als seine Eltern. „Das zentrale Versprechen einer modernen Gesellschaft, dass die kommende Generation besser leben wird als die jetzige, wird nicht eingehalten“, warnt David Willetts gegenüber der „Presse“.
Ein sanfter Brexit
Während Willetts’ Konservative darauf keine Antwort wissen, knüpft Labour da erfolgreich an. Auf mehr als 800.000 ist die Mitgliederzahl in den vergangenen Jahren förmlich explodiert, die meisten davon junge Menschen. McDonnell verspricht ihnen einen „Sozialismus mit iPad“. Auf dem Popfestival von Glastonbury wurde Corbyn im Juni wie ein Rockstar verehrt. Willetts meint zwar: „Diese jungen Menschen sind keine Marxisten, sondern enttäuscht über gebrochene Versprechen.“Doch ein Politikangebot für sie hat derzeit nur Labour.
Das trifft auch auf ein zweites zentrales Problemfeld zu – den Brexit. Zwar ist die Politik von Labour zum EU-Austritt eher unklar: Corbyn bleibt trotz aller Verbalverrenkungen ein linker EU-Gegner. McDonnell scheint einen Verbleib im Binnenmarkt mit dem Ziel seiner Umformung zu favorisieren. Dafür hat nicht nur die Mehrheit der Jugend in der Volksabstimmung 2016 gestimmt. Das will auch die britische Wirtschaft. Und so wird der „linke Aufwiegler“McDonnell in der Londoner City nicht mehr nur als Gottseibeiuns gesehen, sondern angesichts der Spaltung der Regierung auch als Hoffnungsträger für einen sanften Brexit.
Umgekehrt hat McDonnell seine Wortwahl deutlich gemildert und begonnen, Wirtschaftsführer aktiv zu umgarnen. Laut Meinungsumfragen liegen Konservative und Labour gleichauf. Labour gibt sich auf einmal wesentlich weniger dogmatisch. Dieselbe Fähigkeit hat die Wirtschaft immer ausgezeichnet. Ein Lobbyist meint: „Wir sind pragmatisch.“