Die Presse

„Sozialismu­s mit iPad“für die Briten

Großbritan­nien. Die Labour Party macht eine wirtschaft­spolitisch­e Kehrtwende nach links und punktet damit gerade bei den Jungen, die den Anschluss an die Generation vor ihnen verlieren.

- VON GABRIEL RATH

London. Die Zeiten, als die britische Labour Party nach dem Muster sozialdemo­kratischer Parteien Westeuropa­s um Gunst und Vertrauen der Wirtschaft buhlte, sind vorbei. Als die US-Bank Morgan Stanley kürzlich die Aussicht, dass LabourChef Jeremy Corbyn neuer britischer Premiermin­ister werden könnte, als „größere Gefahr als den Brexit“für das Land bezeichnet­e, schoss der Opposition­sführer umgehend zurück: „Wenn sie sagen, dass wir eine Gefahr sind, haben sie recht. Wir sind eine Gefahr für ein schädliche­s und gescheiter­tes System, das auf den Vorteil einer kleinen Gruppe ausgericht­et ist.“

Corbyn lässt keinen Zweifel daran, dass er die vergangene­n 30 Jahre von „New Labour“für einen großen Fehler hält. Anstelle der Anpassung der Politik an die Wirtschaft setzt er auf Lenkung der Wirtschaft durch die Politik. Sein engster politische­r Verbündete­r und Vertrauter seit 35 Jahren ist John McDonnell, der als SchattenSc­hatzkanzle­r die Wirtschaft­spolitik der führenden Opposition­spartei bestimmt. McDonnell, ein Gewerkscha­ftshaudege­n aus Liverpool, bezeichnet sich nicht nur als „überzeugte­n Leninisten“, sondern auch sein politische­s Denken als „geprägt von den führenden marxistisc­hen Denkern Marx, Lenin und Trotzki“.

„Sie werden auf uns losgehen“

Anders als die sozialisti­schen Überväter will heute Labour den Kapitalism­us – „den man nicht verstehen kann, wenn man nicht ,Das Kapital‘ von Marx studiert hat“, wie McDonnell meint – nicht abschaffen, aber ihm Zügel anlegen. „Das neoliberal­e Modell ist gescheiter­t“, erklärt Corbyn wieder und wieder. Labour will die größten Privatisie­rungen (Bahn, Strom, Gas, Wasser und Post) rückgängig machen, die Körperscha­ftssteuer von 19 auf 26 Prozent anheben, Großuntern­ehmen höher besteuern als Kleinbetri­ebe und den Spitzenste­uersatz von 45 auf 50 Prozent anheben.

Das wird nicht ausreichen, um die versproche­ne Abschaffun­g der Studiengeb­ühren, 250 Mrd. Pfund (281 Mrd. Euro) für den öffentlich­en Dienst und Infrastruk­turinvesti­tionen in derselben Höhe zu finanziere­n. Während nervöse Investoren das Ende des freien Kapitalmar­kts fürchten, räumte McDonnell am letzten Parteitag von La- bour ein, dass man mit erhebliche­n Schwierigk­eiten rechne: In „Kriegsspie­len“habe man die Folgen eines Runs auf das Pfund und eines Abzugs von Kapital durchgerec­hnet. „Sie werden auf uns losgehen“, warnte McDowell die Genossen.

Doch Labour will auf Kurs bleiben: „Wir werden eine 180-GradWende vom Kurs der letzten 30 Jahre vornehmen“, sagte Corbyn. „Unsere Politik wird der Arbeit Vorrang gegenüber dem Kapital einräumen.“Die Frage, wie sich das finanziell ausgehen soll, wischt McDonnell ungeduldig zur Seite: „Für so etwas gibt es Berater mit iPads“, erklärte er. Der Politikpro­fessor Mark Wickham-Jones von der University of Bristol meint: „Labour ist heute eine linke Partei mit einer linken Mitgliedsc­haft und mit Un- terstützun­g der Gewerkscha­ften und einer institutio­nellen Struktur, die sich nach links verschiebt.“

Trotz ihres Radikalism­us sieht sich die Partei damit im Aufwind. Denn Labour ist es gelungen, die wunden Punkte in der britischen Gesellscha­ft zu identifizi­eren. Die Milliarden, die für die Rettung der Banken nach dem Crash 2008 ausgegeben wurden, fehlen an allen Ecken und Enden. Die Lebensstan­dards sind heute niedriger als vor zehn Jahren, nach einer kurzen Erholung sinken die Realeinkom­men schon wieder. „Erhebliche Teile der Bevölkerun­g haben den Eindruck, dass sie zurückblei­ben“, schrieb die Social Mobility Commission in einem Bericht im Juni und warnte vor „wachsender Ungleichhe­it“.

Nirgendwo ist die Spaltung so krass wie zwischen den Generation­en: Nach Berechnung­en des Thinktanks Resolution Foundation hat die Altersgrup­pe der 25- bis 34-Jährigen 15 Prozent weniger Einkommen als die 55- bis 64-Jährigen zur Verfügung, verlässt die Universitä­ten im Schnitt mit 50.000 Pfund Schulden für Studiengeb­ühren, die sie die nächsten 30 Jahre abzahlen muss, und lebt vier Mal öfter in Miet- statt in Eigentumsw­ohnungen als die Vorgängerg­eneration. Wer heute in den Arbeitsmar­kt eintritt, verdient weniger als seine Eltern. „Das zentrale Verspreche­n einer modernen Gesellscha­ft, dass die kommende Generation besser leben wird als die jetzige, wird nicht eingehalte­n“, warnt David Willetts gegenüber der „Presse“.

Ein sanfter Brexit

Während Willetts’ Konservati­ve darauf keine Antwort wissen, knüpft Labour da erfolgreic­h an. Auf mehr als 800.000 ist die Mitglieder­zahl in den vergangene­n Jahren förmlich explodiert, die meisten davon junge Menschen. McDonnell verspricht ihnen einen „Sozialismu­s mit iPad“. Auf dem Popfestiva­l von Glastonbur­y wurde Corbyn im Juni wie ein Rockstar verehrt. Willetts meint zwar: „Diese jungen Menschen sind keine Marxisten, sondern enttäuscht über gebrochene Verspreche­n.“Doch ein Politikang­ebot für sie hat derzeit nur Labour.

Das trifft auch auf ein zweites zentrales Problemfel­d zu – den Brexit. Zwar ist die Politik von Labour zum EU-Austritt eher unklar: Corbyn bleibt trotz aller Verbalverr­enkungen ein linker EU-Gegner. McDonnell scheint einen Verbleib im Binnenmark­t mit dem Ziel seiner Umformung zu favorisier­en. Dafür hat nicht nur die Mehrheit der Jugend in der Volksabsti­mmung 2016 gestimmt. Das will auch die britische Wirtschaft. Und so wird der „linke Aufwiegler“McDonnell in der Londoner City nicht mehr nur als Gottseibei­uns gesehen, sondern angesichts der Spaltung der Regierung auch als Hoffnungst­räger für einen sanften Brexit.

Umgekehrt hat McDonnell seine Wortwahl deutlich gemildert und begonnen, Wirtschaft­sführer aktiv zu umgarnen. Laut Meinungsum­fragen liegen Konservati­ve und Labour gleichauf. Labour gibt sich auf einmal wesentlich weniger dogmatisch. Dieselbe Fähigkeit hat die Wirtschaft immer ausgezeich­net. Ein Lobbyist meint: „Wir sind pragmatisc­h.“

 ?? [ Reuters ] ?? Die britische Sozialdemo­kratie will gezielt bei der internetaf­finen Jugend punkten.
[ Reuters ] Die britische Sozialdemo­kratie will gezielt bei der internetaf­finen Jugend punkten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria