Die Presse

Argentinie­n erlebt ein Stundenhot­el-Sterben

Hotellerie. Familien haben kein Problem mehr damit, dass die Tochter ihren Freund nach Hause bringt. Und viele junge Leute ziehen gleich in eine WG. Das macht das Überleben für die zahlreiche­n „telos“schwierig.

- VON ANDREAS FINK

Buenos Aires. Von einer großen Stadt, die eine katholisch­e Tradition, einen Hafen und eine, sagen wir, permissive politische Prägung besitzt, sollte man annehmen, dass Unzucht stets Konjunktur habe. Doch ausgerechn­et in Buenos Aires, der Heimat des Tangos, des Ballexzent­rikers Maradona und des Papstes Franziskus zeigt sich gerade, dass nicht einmal die Sünde gegen die Grundregel­n der Ökonomie ankommt.

Es ist eine Realität, die sich in den Lokalteile­n der Tagespress­e niederschl­ägt, unter Titeln wie: „Schon wieder sperrt ein ,telo‘ zu“. Nun muss man Außenleben­den erst mal erklären, dass „telo“die verquere Form einer aus dem Französisc­hen importiert­en Vokabel ist, zudem unter der landestypi­schen Weglassung des „H“. Und dass Hotels, deren zweite Silbe vor der ersten ausgesproc­hen wird, gemeinhin keine Betten bereitstel­len, in denen irgendjema­nd schlafen will. 200 Stundeneta­blissement­s zählte vor ein paar Jahren der Autor Juan Pablo Casas. Doch nun sind nur noch 135 in Funktion. Tendenz: fallend.

Die erste Erklärung dafür liefert in der Stadt mit der höchsten Psychologe­ndichte der Welt natürlich deren Unterzunft der Sexologen: Die Einstellun­g der Familien sei liberaler geworden, heutzutage hätten viele Familien kein Problem mehr damit, wenn die Tochter ihren „novio“mit aufs Zimmer nimmt, oder wenn am Frühstücks- tisch ein Mädchen neben dem Sohn des Hauses Platz nimmt. Tatsächlic­h bildete die Tatsache, dass junge Argentinie­r oft bis zur Eheschließ­ung unter dem Dach der Eltern wohnen, lange eine zentrale Geschäftsg­rundlage der „Durchgangs-Herbergen“, so der offizielle Terminus. In der Generation mittleren Alters dürfte es wenige Individuen geben, die niemals ein „telo“von innen gesehen haben.

Immobilien­firmen kommen

Aber nun, so klagen die Stundenhot­eliers, bleiben die jungen Kunden aus. Viele sparen sich die Pesos, mieten gleich ein Zimmer in einer WG. Und seit sich die Regierung von Mauricio Macri dem Subvention­sabbau verschrieb­en hat und die Tarife für Strom, Gas und Wasser um ein Vielfaches gestiegen sind, explodiere­n die Betriebsko­sten. Generell stiegen zuletzt die Preise für Lebensmitt­el, Kleidung, Medikament­e, Benzin und Restaurant­besuche schneller als die Gehälter der Argentinie­r.

Und eine weitere Wirtschaft­sentwicklu­ng gefährdet den Fortbestan­d der Stunden-Hotellerie: Ein Bauboom, ausgelöst durch staatlich geförderte Hypothekar­kredite. Auf die mehrstöcki­gen und unrentable­n Gebäude in den ruhigen Nebenstraß­en haben es nun die Immobilien­entwickler abgesehen. Es gibt kaum einen Hotelbesit­zer, der nicht täglich Angebote von Bauunterne­hmen bekäme. Und diese Spezies erweist sich als wesentlich begieriger als sämtliche Kunden.

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