Zwischen Nostalgie und Italianit`a
Neujahrskonzert. Riccardo Muti dirigierte ein Vierteljahrhundert nach seinem Erstauftritt am 1. Jänner sein fünftes philharmonisches Neujahrskonzert in Wien: mit einem feinen Programm zwischen k. u. k. Nostalgie und Italianit`a.
Ricardo Muti dirigierte sein fünftes philharmonisches Neujahrskonzert mit einem feinen Programm in habsburgischer Koalition.
Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass Riccardo Muti erstmals zu Neujahr am philharmonischen Dirigentenpult erschien. Damals war er die unangefochtene Nummer eins in der Gunst des Orchesters und für das Publikum zumindest in Sachen Mozart der führende Mann: womit er eine zentrale Position im hiesigen musikalischen Selbstverständnis besetzte. Und die wusste der Maestro aus Neapel mit klugem Verweis auf die gemeinsame habsburgische Geschichte Wiens und seiner Heimatstadt in Richtung Walzer und Polka auszuweiten.
Manch einer hätte Muti gern in führender Position in Wien oder Salzburg gesehen. Doch der ist ein Solitär geblieben, der natürlich auch in seinem fünften Neujahrskonzert auf Italianita` zu setzen wusste, soweit sie sich in der wienerischen Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts widerspiegelt.
Da wären die „Rosen aus dem Süden“, geschnitten im Garten der Operettenpartitur zum „Spitzentuch der Königin“und dem italienischen König Umberto I. zugeeignet. Dann die Ouvertüre zu „Boccaccio“aus der Feder von Franz von Suppe,´ dem Mann aus Dalmatien, der musikalisch so virtuos zwischen südländischem Temperament und Wiener Walzerseligkeit balancierte – Sohn einer Wienerin und eines Vaters aus den habsburgischen Niederlanden, dessen Vaterstadt Spalato im Jahr seiner Geburt mehrheitlich italienischsprachig war, bei seinem Tod (1895) von Kroaten dominiert, aber bis 1918 zu Cisleithanien gehörte.
Weltpolitik im Walzertakt
Politische Hintergedanken konnten während Mutis Programm von anno 2018, zwei Märsche von Johann Strauß an zentraler Stelle, vom ersten Moment an mitschwingen. Der Einzug der im österreichischen Erbfolgekrieg siegreichen ungarischen Truppen in Wien aus dem „Zigeunerbaron“zunächst, dann beim späten „Festmarsch“, komponiert zur Hochzeit des bulgarischen Zaren Ferdinand mit Marie-Louise von Bourbon-Parma; mit der Finesse, dass Ferdinand aus dem Hause Sachsen-Coburg stammte, dessen Untertan Johann Strauß geworden war, weil im Österreich des Kaisers Franz Joseph eine Scheidung unmöglich gewesen wäre . . .
All diese und noch viel mehr unfreiwillige historische Pointen – etwa die Komposition von „Donauwalzer“und der „Geschichten aus dem Wienerwald“(mit dem sanftem Zithersolo von Barbara Laister-Ebner) im Gefolg des bitteren Verlusts der österreichi- schen Truppen bei Königgrätz – machen ein Walzer-Programm wie dieses zu einem Spiegel der Kulturgeschichte; sage keiner, es sei unwichtig, in welchem Umfeld eine poetische oder dramatische Walzer-Einleitung komponiert (und vom Uraufführungs-Publikum gehört) worden ist. Da kann ein Dirigent gar nicht übertreiben, denkt man, bei der Hervorkehrung spezieller Klangdetails und satztechnischer Besonderheiten.
Oder doch, hie und da. Etwa die erstmals zu Neujahr gespielten „Myrtenblüten“, die Johann Strauß zur Hochzeitsfeier von Kronprinz Rudolf und Stephanie von Belgien beisteuerte, ließ Muti so schwerfällig musizieren, als hätten die Musiker schon geahnt, wie unglücklich die Ehe werden würde. Die aus gleichem Anlass geschriebene „Stephanie“-Gavotte des böhmischen Militärkapellmeisters (und Neujahrskonzertdebütanten) Alfons Czibulka klang dann freilich ganz luftig, leicht, durchzogen von filigranen Holzbläserornamenten, wie sie schon ganz zu Beginn des Konzerts subtil die Melodien von Joseph Strauß’ „Wiener Fresken“umrankt hatten.
Die kapellmeisterische Autorität Mutis ließ sich diesmal immer wieder in entspanntes Klangkapital ummünzen. Locker wie zu Neujahr gibt sich Muti sonst kaum – und die Musiker danken ihm das, indem sie zwar durchaus mit der erwünschten Punktgenauigkeit zu Werke gehen, diese aber raffiniert in jeglicher Couleur servieren, des Öfteren mit einem Augenzwinkern als wollten sie sagen: ja, so kann man das auch spielen. Die legendäre wienerische Dreivierteltakt-Schlamperei hat ja auch mit Präzision zu tun, mit einer Präzision, die man halt nur hierzulande in jeder Fasson beherrscht.
Das weiß auch Muti und lässt den Philharmonikern daher in den entscheidenden Momenten freie Hand, freien Rhythmus. Dafür beharrt er dort, wo er sich im Recht weiß, auf Punkt und Komma. Der OpernMaestro ist ja weltweit geachtet, und wo Vater Strauß ganz ungeniert und beinah ohne eigene Zutat Rossini arrangiert („Wilhelm Tell Galopp“), oder wo der Sohn aus Fragmenten von Verdis „Maskenball“eine Quadrille zurechtzimmert, da wirkt die utopische Kombination aus selbstbestimmtem philharmonischem Spiel und absoluter Herrschaft des Maestro zur idealen Realität, in der auch die Schnellpolkas, „Freikugeln“, „Eingesendet“(Joseph Strauß) blitzen und donnern, wie sich’s gehört.
Und in den Märschen sorgt Muti überdies dafür, dass nicht allzu zackig defiliert, stattdessen mit Lust melodisch phrasiert wird. Da funktioniert, um noch einmal die Politik zu bemühen, die althabsburgische Koalition Neapel/Wien, als wäre die Zeit stehen geblieben und Königgrätz der vollkommenste aller Geschichtsirrtümer.
Apropos: Wer das Konzert am Silvesterabend erlebte, sah dann im ORF, dass die seit jeher verlästerte televisionäre Umsetzung nicht einfacher wird; jähe Schnitte stören das Hörerlebnis ebenso wie unkommentierte Einblendungen von Bildern aus Kultur-Wien (etwa aus dem „Literaturmuseum“) oder Ballett-Visionen über fahrenden U-Bahn-Garnituren. Der ungestörte Blick auf die Sekundgeigen verriete allemal mehr über die Geheimnisse des Dreivierteltakts.