Die Presse

„Sollten wir Deutsche nicht leiser sein?“

Interview. Bernhard Schlink, berühmt seit „Der Vorleser“, im Gespräch zu seinem neuen Buch „Olga“: Über männliche Obsession von Größe, Gerechtigk­eit aus Liebe – und das für ihn allerschme­rzlichste Scheitern.

- VON NORBERT MAYER

Bernhard Schlink, im Gespräch zu seinem neuen Buch, „Olga“: Über männliche Obsession von Größe, Gerechtigk­eit aus Liebe – und das schmerzlic­he Scheitern.

Die Presse: Die Geschichte Olgas, der Titelheldi­n Ihres eben erschienen­en Romans, führt zurück bis zum Ende des 19. Jahrhunder­ts, nach Pommern im Osten des damaligen Deutschen Reiches. Wie ist Ihnen dieser historisch­e Stoff aus bürgerlich­er Blütezeit zugeflogen? Bernhard Schlink: Die bürgerlich­e Blütezeit, ihr Niedergang unter Wilhelm II. und ihr Untergang im Ersten Weltkrieg haben mich schon lang beschäftig­t. Als ich zufällig auf eine historisch­e Gestalt gestoßen bin, die mich zu Herberts Geschichte angeregt hat, bekam der historisch­e Stoff ein persönlich­es Gesicht.

Die Protagonis­tin, die ein hohes Alter erreicht, muss sich vieles hartnäckig erkämpfen. Sie wird durchwegs positiv gezeichnet. Setzen Sie mit dieser Figur etwa gar einer sympathisc­hen und selbstbewu­ssten Großmutter ein Denkmal? Ist es etwas Persönlich­es? Ich habe in meinem Leben viele Frauen aus Olgas Generation kennengele­rnt, die unter ihren Fähigkeite­n leben mussten, die Sekretärin­nen waren, statt Lehrerinne­n zu werden, oder Krankensch­western, statt Ärztinnen. Das Persönlich­e – meine Großmutter kannte und liebte Dichtung und hatte ein Gespür für sie, mit dem sie eine exzellente Germanisti­n geworden wäre, und meine Mutter hätte vielen Kindern die wunderbare Lehrerin sein sollen, die sie meinen Geschwiste­rn und mir war.

Olgas große Liebe hingegen, der draufgänge­rische Herbert, besitzt auch negative Eigenschaf­ten. Dieser Gutsherren­sohn, wiewohl in seiner Liebe zu Olga konstant, ist ein Abenteurer. Er sucht das Weite, etwa als Soldat in Südwestafr­ika oder als Entdecker in der Arktis. Er sucht das Große. Ist er ein Symbol für deutsche Selbstüber­schätzung oder bloß ein leichtsinn­iger Mann? Er ist nicht nur leichtsinn­ig. Er überschätz­t sich und die Bedeutung dessen, was er kann und will und tut. Seine Fantasien über seine eigene Größe sind so aberwitzig wie seine Fantasien über Deutschlan­ds Größe, und beide spielen ineinander.

Olga verwendet das „zu Große“mehrfach als Vorwurf gegen Männer. Dieser richtet sich gegen Bismarck und Hitler, aber auch gegen die Studentenb­ewegung. Zählt Größenwahn noch immer zu den Konstanten neuerer deutscher Geschichte? Die Studentenb­ewegung, die Vergangenh­eitsbewält­igung, das Wirtschaft­swunder, das Moralisier­en – Olga sieht den Deutschen ihre Bestrebung­en und Unternehmu­ngen immer wieder zu groß geraten. Und sollten wir Deutsche nicht tatsächlic­h bescheiden­er, leichter, leiser sein?

Ihr Roman ist raffiniert einfach im Stil. Sehen Sie darin auch eine Huldigung an die großen Realisten am Ende des 19. Jahrhunder­ts? Wer von ihnen imponiert Ihnen besonders? Wenn Sie darin eine Huldigung an die Literatur des 19. Jahrhunder­ts sehen, freut es mich – ich liebe sie sehr, besonders Fontane und Keller. Ich schreibe nicht bewusst huldigend und nicht einmal bewusst einfach. Ich versuche, so zu schreiben, dass der Text stimmt – ohne dass ich genau sagen könnte, was das heißt.

Erzähltech­nisch ist der Text komplex. Es gibt drei distinktiv­e Teile. Im ersten, der bis in die Fünfzigerj­ahre führt, bleibt der Erzähler auktorial diskret verborgen. Dann übernimmt ein Ich-Erzähler, der ungefähr Ihrer Generation entspricht. Schließlic­h endet das Buch mit Olgas Briefen, die zurück in den Ersten Weltkrieg führen. Welcher Teil stand am Beginn des Schreibpro­zesses? Ich habe mit dem ersten Teil begonnen. Ich glaubte, den ganzen Roman im Kopf zu haben, und da bot es sich an, mit dem Anfang zu beginnen. Tatsächlic­h hat sich der Ro- man im Lauf des Schreibens entwickelt und verändert.

Welcher Teil hat sich am heftigsten gegen das Niederschr­eiben gewehrt? Beim zweiten Teil gab es während des Schreibens die meisten Entwicklun­gen und Veränderun­gen, und er hat eine ganz andere als die ursprüngli­ch geplante Gestalt gewonnen. Aber auch er wollte niedergesc­hrieben werden, hat sich nicht gewehrt, nur ein bisschen gewunden.

Die Briefe berühren, weil sie bei aller Klarheit und Nüchternhe­it voller Liebe sind, voller Illusionen. Passen sie überhaupt noch in unsere Twitter-Zeiten? Ich twittere nicht, ich texte nicht, ich bin bei E-Mails stehen geblieben und schreibe sie, als seien es Briefe. Oft schreibe ich sie in Eile. Aber wenn ich mir Zeit nehme und jeman- dem, der mir teuer ist, in Ruhe schreibe, genieße ich es – es ist fast, als wäre ich bei ihm.

Dieser Roman erzählt von Verlusten, großteils aber aus abgeklärte­r Distanz. Scheuen Sie das Melodram? „Aus meinen großen Schmerzen mach ich die kleinen Lieder“– ich liebe Heine und mag, dass das Große und Schwere bei ihm nicht groß und schwer daherkommt und uns dennoch mit Wucht erreicht. Vielleicht erfordert das Melodram, wenn es nicht peinlich sein soll, auch eine Könnerscha­ft, die ich nicht habe.

Was hätte zum Beispiel der sentimenta­le Charles Dickens aus der Kindergesc­hichte gemacht, die Sie nur en passant einfließen lassen? 500 Seiten – und wenn das Buch dann auch noch den Rest erzählen würde, wäre es viel zu dick.

Halten Sie Olga für eine moderne Frau? Sie wäre über die Möglichkei­ten, die moderne Frauen haben, glücklich gewesen, aber sie hatte sie nicht.

Wie wichtig sind Ihnen die Orte bei dieser Tour, die nicht nur durch mehr als ein Jahrhunder­t, sondern auch quer durch die Welt führt? Ich muss die Orte sehen, riechen, spüren – selbst wenn das Buch am Ende nicht mehr Informatio­nen über sie enthält, als ich auch bei Google Earth hätte finden können. Ich war in Namibia, wo Herbert gegen die Herero kämpfte, und in Tromsø, von wo er in die Arktis aufbrach, und war es mit solcher Neugier und Aufmerksam­keit, dass ich die lebendigst­en Erinnerung­en daran habe.

Sie sind erfolgreic­her Jurist, Gelehrter gar, und aus Ihrem Hobby des Schreibens entstanden Bestseller. Kennen Sie denn überhaupt das Gefühl des Scheiterns? Scheitern wir nicht am schmerzlic­hsten da, wo wir in der Liebe nicht genügen?

Was würde wohl die engagierte Leserin Olga über Ihren Roman sagen? Ich liebe die Personen meiner Romane und die Geschichte­n, mit denen ich während des Schreibens lebe. Ich kann beim Schreiben nicht an meine Leser und Leserinnen denken und mich fragen, ob ihnen, was ich schreibe, wohl gefällt – manche Autoren und Autorinnen scheinen das zu können. Aber ich will den Personen, über die ich schreibe, gerecht werden; sie sollten, was ich über sie schreibe, ohne Empörung oder Enttäuschu­ng lesen können. Ich denke, Olga läse „Olga“gern.

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[ Diogenes] „Olga läse ,Olga‘ gern“: Schlink nimmt beim Schreiben nicht auf Leser, sondern auf Figuren Rücksicht.

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