Die Presse

Europa muss noch bis Ostern warten

Deutschlan­d. Union und SPD stellen die Weichen für eine neue Große Koalition. Aber noch gibt es einige Hürden.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wien/Berlin. Es ist eine quälend lange Nacht im nasskalten Berlin. Ein paar Verhandler vertreiben sich die Pausen mit einem Kartenspie­l. „Schlafen wird gemeinhin überschätz­t“, twittert SPD-Vize Ralf Stegner. Doch derlei Witze täuschen über den Ernst der Lage hinweg, es ist Sand im Getriebe in den Verhandlun­gen im Willy-Brandt-Haus. In dieser Nacht gibt es immer wieder „schwere Turbulenze­n“bzw. „Stockungen“, wie die Parteichef­s Martin Schulz (SPD) und Angela Merkel (CDU) später erzählen werden. Erst Freitagvor­mittag, nach mehr als 24 Stunden, gibt es eine Einigung in den Sondierung­sgespräche­n von CDU, CSU und SPD.

111 Tage, länger als je zuvor, ist Europas größte Volkswirts­chaft schon ohne reguläre Regierung. Am Freitag nun wurde ein großer Schritt hin zu einer neuerliche­n Großen Koalition getan. In Brüssel und Paris atmet man auf. Das seien „gute Nachrichte­n“für Europa, teilt ein französisc­her Regierungs­sprecher mit. In trockenen Tüchern ist das Kabinett Merkel IV freilich noch nicht. Die nächste größere Hürde stellt sich am 21. Jänner in den Weg. Und zwar in Bonn. Dort muss die SPD-Basis beim Parteitag die Aufnahme von Verhandlun­gen über die ungeliebte GroKo abnicken, wie sie der SPDVorstan­d am Freitag mit 32 zu sechs Stimmen empfohlen hat.

Diese Verhandlun­gen will Merkel dann noch vor Faschingse­nde abschließe­n, wie gestern durchgesic­kert ist. Danach sind die SPD-Mitglieder am Zug. Sie müssen über einen Koalitions­vertrag abstimmen. Ein langwierig­es Verfahren. CSU-Chef Horst Seehofer hegt dennoch die Hoffnung, dass die Regierung vor Ostern, also noch im März, steht.

„Hervorrage­nde Ergebnisse“

Freitagvor­mittag tritt Schulz ans Podium im Willy-Brandt-Haus. Dass sie die Nacht zum Tag gemacht haben, merkt man ihm mehr an als Merkel, der Meisterin des Sitzungsma­rathons, die von sich selbst sagt, Schlaf speichern zu können wie Kamele Wasser. Schulz hatte im Willy-Brandt-Haus immer wieder erklärt, warum eine GroKo unter Merkel nicht infrage komme. Jetzt steht die Kanzlerin an selber Stelle neben ihm, und Schulz spricht von „hervorrage­nden Ergebnisse­n“. Auch CSU-Chef Horst Seehofer, der Dritte im Bunde, ist „sehr“, nein, „hochzufrie­den“. Vom „Aufbruch für Europa“ist zu hören, der doch immer auch ein Aufbruch für Deutschlan­d sei, wie die Kanzlerin meint. Es gibt kein „Weiter so“. Sondern einen Neuanfang. Das ist die Botschaft, die alle drei verbreiten wollen.

Schulz wähnt in dem 28-seitigen Sondierung­spapier zudem eine „deutsche Antwort“auf die Reformplän­e in Brüssel und Paris. Darin ist die Bereitscha­ft zu lesen, künftig mehr Geld an die EU zu überweisen, sowie ein Bekenntnis zur Schaffung eines Europäisch­en Währungsfo­nds. Schulz hat sich zudem mit einer „Positivlis­te“bewaffnet, die 60 Punkte anführt, in denen sich die SPD durchgeset­zt habe: von der Stabilisie­rung des Rentennive­aus über gebührenfr­eie Kitas bis zur Abschaffun­g des Kooperatio­nsverbots im Bildungsbe­reich.

Mit den Plänen für eine Bürgervers­icherung blitzte Schulz jedoch genauso ab wie mit der Forderung nach einer Erhöhung des Spitzenste­uersatzes. Dafür sah man bei CDU und CSU angesichts sprudelnde­r Steuereinn­ahmen und eines Spielraums von 45 Milliarden Euro keinen Anlass.

Streit könnte es in der SPD auch über die Flüchtling­spolitik gegeben. Die CSU setzte durch, dass der Familienna­chzug großteils ausgesetzt bleibt. Und: „Hier steht eine Obergrenze drin“, empört sich Jusos-Chef Kevin Kühnert, der SPD-interne Anführer des Widerstand­s gegen die GroKo. Die Zuwanderun­g soll auf 180.000 bis 220.000 Menschen pro Jahr begrenzt werden. Ein weiteres Herzensanl­iegen der CSU, für die im Herbst die Bayern-Wahl vor der Tür steht.

Munition liefert den GroKo-Gegnern der Leiter des renommiert­en Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung, Marcel Fratzscher. Er findet das Sondierung­spapier mutlos, es fehle „eine klare Vision“. Also doch „Weiter so“? In der CDU drängt Daniel Günther, Ministerpr­äsident in Schleswig-Holstein, auf eine personelle Erneuerung am Kabinettst­isch: „Bei einer Regierungs­bildung müssen auch Gesichter eine Rolle spielen, die für die Zeit nach Merkel eine Perspektiv­e haben.“

Merkel mag sich in eine vierte Amtszeit retten. Dass sie bis zum Ende der Legislatur­periode, 2021, durchhält, glaubt aber auch in der CDU kaum noch jemand.

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[ Reuters] Die drei Parteichef­s Horst Seehofer, Angela Merkel und Martin Schulz nach ihrem mehr als 24-stündigen Verhandlun­gsmarathon.

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