Europa muss noch bis Ostern warten
Deutschland. Union und SPD stellen die Weichen für eine neue Große Koalition. Aber noch gibt es einige Hürden.
Wien/Berlin. Es ist eine quälend lange Nacht im nasskalten Berlin. Ein paar Verhandler vertreiben sich die Pausen mit einem Kartenspiel. „Schlafen wird gemeinhin überschätzt“, twittert SPD-Vize Ralf Stegner. Doch derlei Witze täuschen über den Ernst der Lage hinweg, es ist Sand im Getriebe in den Verhandlungen im Willy-Brandt-Haus. In dieser Nacht gibt es immer wieder „schwere Turbulenzen“bzw. „Stockungen“, wie die Parteichefs Martin Schulz (SPD) und Angela Merkel (CDU) später erzählen werden. Erst Freitagvormittag, nach mehr als 24 Stunden, gibt es eine Einigung in den Sondierungsgesprächen von CDU, CSU und SPD.
111 Tage, länger als je zuvor, ist Europas größte Volkswirtschaft schon ohne reguläre Regierung. Am Freitag nun wurde ein großer Schritt hin zu einer neuerlichen Großen Koalition getan. In Brüssel und Paris atmet man auf. Das seien „gute Nachrichten“für Europa, teilt ein französischer Regierungssprecher mit. In trockenen Tüchern ist das Kabinett Merkel IV freilich noch nicht. Die nächste größere Hürde stellt sich am 21. Jänner in den Weg. Und zwar in Bonn. Dort muss die SPD-Basis beim Parteitag die Aufnahme von Verhandlungen über die ungeliebte GroKo abnicken, wie sie der SPDVorstand am Freitag mit 32 zu sechs Stimmen empfohlen hat.
Diese Verhandlungen will Merkel dann noch vor Faschingsende abschließen, wie gestern durchgesickert ist. Danach sind die SPD-Mitglieder am Zug. Sie müssen über einen Koalitionsvertrag abstimmen. Ein langwieriges Verfahren. CSU-Chef Horst Seehofer hegt dennoch die Hoffnung, dass die Regierung vor Ostern, also noch im März, steht.
„Hervorragende Ergebnisse“
Freitagvormittag tritt Schulz ans Podium im Willy-Brandt-Haus. Dass sie die Nacht zum Tag gemacht haben, merkt man ihm mehr an als Merkel, der Meisterin des Sitzungsmarathons, die von sich selbst sagt, Schlaf speichern zu können wie Kamele Wasser. Schulz hatte im Willy-Brandt-Haus immer wieder erklärt, warum eine GroKo unter Merkel nicht infrage komme. Jetzt steht die Kanzlerin an selber Stelle neben ihm, und Schulz spricht von „hervorragenden Ergebnissen“. Auch CSU-Chef Horst Seehofer, der Dritte im Bunde, ist „sehr“, nein, „hochzufrieden“. Vom „Aufbruch für Europa“ist zu hören, der doch immer auch ein Aufbruch für Deutschland sei, wie die Kanzlerin meint. Es gibt kein „Weiter so“. Sondern einen Neuanfang. Das ist die Botschaft, die alle drei verbreiten wollen.
Schulz wähnt in dem 28-seitigen Sondierungspapier zudem eine „deutsche Antwort“auf die Reformpläne in Brüssel und Paris. Darin ist die Bereitschaft zu lesen, künftig mehr Geld an die EU zu überweisen, sowie ein Bekenntnis zur Schaffung eines Europäischen Währungsfonds. Schulz hat sich zudem mit einer „Positivliste“bewaffnet, die 60 Punkte anführt, in denen sich die SPD durchgesetzt habe: von der Stabilisierung des Rentenniveaus über gebührenfreie Kitas bis zur Abschaffung des Kooperationsverbots im Bildungsbereich.
Mit den Plänen für eine Bürgerversicherung blitzte Schulz jedoch genauso ab wie mit der Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Dafür sah man bei CDU und CSU angesichts sprudelnder Steuereinnahmen und eines Spielraums von 45 Milliarden Euro keinen Anlass.
Streit könnte es in der SPD auch über die Flüchtlingspolitik gegeben. Die CSU setzte durch, dass der Familiennachzug großteils ausgesetzt bleibt. Und: „Hier steht eine Obergrenze drin“, empört sich Jusos-Chef Kevin Kühnert, der SPD-interne Anführer des Widerstands gegen die GroKo. Die Zuwanderung soll auf 180.000 bis 220.000 Menschen pro Jahr begrenzt werden. Ein weiteres Herzensanliegen der CSU, für die im Herbst die Bayern-Wahl vor der Tür steht.
Munition liefert den GroKo-Gegnern der Leiter des renommierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. Er findet das Sondierungspapier mutlos, es fehle „eine klare Vision“. Also doch „Weiter so“? In der CDU drängt Daniel Günther, Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, auf eine personelle Erneuerung am Kabinettstisch: „Bei einer Regierungsbildung müssen auch Gesichter eine Rolle spielen, die für die Zeit nach Merkel eine Perspektive haben.“
Merkel mag sich in eine vierte Amtszeit retten. Dass sie bis zum Ende der Legislaturperiode, 2021, durchhält, glaubt aber auch in der CDU kaum noch jemand.