„Die USA haben mehr als 16 Jahre weggeschaut“
Interview. Afghanistans ExPräsident Hamid Karzai über die Fehler der USA, die Rolle Pakistans, Verhandlungen mit den Taliban und die Rückkehr junger Afghanen.
Die Presse: Im 17. Jahr der Intervention der US- und der Nato-Truppen in Afghanistan steckt das Land immer noch im Schlamassel. Was ist Ihre Erklärung dafür? Hamid Karzai: Das stimmt leider. Verantwortlich sind die Fehler der Verbündeten, vor allem der Amerikaner. Und es liegt daran, dass Pakistan den Extremismus weiterhin fördert. Die USA haben mehr als 16 Jahre lang weggeschaut.
Es ist der längste Krieg, in den die USA je verwickelt waren. Wie lautet Ihr Fazit? Der Krieg ist ein totales Desaster. Die USA haben ihr Ziel klar verfehlt.
Die USA haben ihre Politik nun geändert. Sie setzen Pakistan unter Druck, indem sie die Finanzhilfe vorerst eingestellt haben. Welche Wirkung wird das haben? US-Regierungen hätten Pakistan schon früher zu einer größeren Kooperation im Antiterror-Kampf drängen müssen. Sie hätten die 33 Milliarden Dollar nicht auszahlen sollen, die sie bisher Pakistan zukommen ließen. Sie hätten eine weitergehende Kooperation in der Region suchen müssen. Und sie hätten die Aggression nicht in die afghanischen Dörfer und Häuser tragen dürfen. Das waren entsetzliche Fehler. Die Maßnahme der Trump-Regierung gegen Pakistan ist ein richtiger Schritt, den ich begrüße – bei allen Differenzen, die ich mit den USA habe.
Könnte diese Maßnahme aber nicht in die falsche Richtung losgehen? Nein. Ich sehe keine andere Option, als Druck auszuüben und damit eine andere Strategie einzuschlagen. Pakistan darf Fundamentalisten nicht mehr als Instrument gegen seine Nachbarn einsetzen. Eine größere regionale Initiative würde auch China, Russland oder Indien einbeziehen. Würde dies eine Friedenslösung nicht noch komplizierter machen? Die Russen und Chinesen würden nicht die Partei der Extremisten ergreifen. Sie sind genauso von der fundamentalistischen Bedrohung betroffen. Wie die Inder oder die Iraner stellen sie sich die Frage, wie es trotz eines Antiterror-Kriegs möglich war, dass die Gefahr jetzt größer ist als vor 16 Jahren.
Wieso kann der IS in Afghanistan auf einmal eine solche Bedrohung darstellen? Die IS-Milizen sind aus dem Ausland gesteuert und gesponsert. Sie kamen vor drei Jahren über die Grenze aus Pakistan. Und wir Afghanen werden neuerlich zum Opfer.
Sie plädieren für eine Lösung, die die Taliban inkludiert. Es gibt moderate und radikale Taliban. Wie soll man mit ihnen umgehen? Die Taliban sind Afghanen, wie wir alle. Wir hoffen, dass sie mit der Gewalt gegen ihr eigenes Land und ihre Landsleute aufhören. Wenn sie wollen, dass sich die USA zurückziehen, sollten sie wissen, dass Kampf nicht der richtige Weg dazu ist. Dafür müssen sie sich auf friedliche Mittel einlassen. Alle in Afghanistan müssen sich mit den USA zusammensetzen.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Taliban – wie vor 2001 – wieder die Macht in Kabul ergreifen? Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Derzeit kontrollieren sie rund die Hälfte Afghanistans. Gespräche mit den Taliban sind unerlässlich. Die Taliban wollen reden, und wir wollen das auch. Wir haben nur deshalb noch keinen Frieden, weil die USA eine falsche Politik und Pakistan eigene Interessen verfolgt. Pakistan muss einsehen, dass es Afghanistan nicht ewig kontrollieren oder unterminieren kann. Der Extremismus trifft die Pakistanis schließlich ja auch selbst.
Was treibt Pakistan an? Ein Faktor ist es, Indien in Schach zu halten. Andere sind die Beschränkungen durch die Durand-Linie (der von den Briten gezogenen Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan, Anm.) und die Komplexität der pakistanischen Nation. All dies könnte Pakistan in zi- vilisierter Weise ansprechen. Wir sind bereit für Verhandlungen mit Pakistan. Doch Pakistan ist entweder nicht fähig dazu oder zu eng mit den USA verbunden.
Nun mischen in Afghanistan auch Warlords wie Gulbuddin Hekmatyar wieder mit, die das Land schon einmal in einen Bürgerkrieg gestürzt haben. Wie hoch ist dafür das Risiko diesmal? Der Bürgerkrieg war die Folge ausländischer Intervention: erst der Sowjets, dann der Pakistanis. Die Konsequenz war ein Desaster für Afghanistan. Als die internationale Gemeinschaft mit uns zusammengearbeitet hat, hatten wir Frieden im Jahr 2001. Wir werden nur zum Frieden zurückfinden, wenn wir alle einbeziehen – nicht, indem wir jemanden ausschließen.
Wie lang sollen die ausländischen Truppen noch im Lande stationiert bleiben? Die können noch lang bleiben. Aber sie müssen ihre Mission erfüllen – die des Wiederaufbaus und als Garanten für Sicherheit und Stabilität.
Wann kann Afghanistan in Frieden leben? In zehn, 15 Jahren? Das kann schon früher passieren. Es wäre auch gut für Österreich und Europa und die afghanischen Flüchtlinge, die hier um Asyl angesucht haben. Ich hoffe, die EU wird eine größere Rolle bei einer Friedenslösung in Afghanistan spielen – und auch in der gesamten Region, etwa in Syrien.
Können Sie verstehen, dass junge Afghanen das Land scharenweise verlassen? Das bedauere ich sehr. Wir brauchen die jungen Leute. Wie können wir sonst unser Land wiederaufbauen?
Würden Sie ihnen empfehlen, jetzt nach Afghanistan zurückzukehren? Ist das Land sicher genug? Natürlich, es ist ihr Land.