„Eine neue Abstimmung zum Brexit ist möglich“
Interview. Der konservative Abgeordnete Dominic Grieve fürchtet um die Stellung Großbritanniens nach dem Austritt aus der EU.
Die Presse: Sie und andere Abgeordnete haben zuletzt wegen Ihres Abänderungsantrags zum Brexit-Gesetz wüste Beschimpfungen und sogar Todesdrohungen erhalten. Ist die öffentliche Debatte in diesem Land völlig aus dem Ruder gelaufen? Dominic Grieve: Ich bin nicht sicher, ob das nur in Großbritannien der Fall ist. Fest steht, dass die sozialen Medien eine Enthemmung geschaffen haben, in der Menschen bereit sind, gewalttätige und niederträchtige Ansichten zu verbreiten. Aber es besteht auch eine Verantwortung der traditionellen Medien. Wir haben Zeitungen, die falsch berichten oder Wut und Ärger schüren wollen.
Wir sehen eine sehr aggressive Berichterstattung und gleichzeitig eine öffentliche Meinung, die verlangt, dass der Brexit-Prozess effizient abgewickelt wird. Viele Menschen, die für den EUAustritt gestimmt haben, konnten nicht wissen, wie kompliziert die Umsetzung werden würde. Es mag von außen alarmierend aussehen, dass wir 18 Monate nach Beginn noch nicht weitergekommen sind. Aber ich halte dies für unvermeidlich. Es liegt ein langer Weg mit vielen Herausforderungen vor uns.
Sie sind einer der führenden Juristen dieses Landes. Was genau ist nun in der ersten Phase der Verhandlungen bezüglich Nordirland und Irland vereinbart worden, und was bedeutet „regulatorische Angleichung“? Ich verstehe „regulatorische Angleichung“als Ausdruck, dass Großbritannien sich bereiterklärt hat, im Fall eines Wirtschaftsabkommens mit der EU ausreichende regulatorische Harmonisierung herzustellen, sodass es keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben muss.
Ist das der weiche Brexit durch die Hintertür? Das ist unmöglich zu beantworten, denn vieles wird davon abhängen, wie die Wirtschaftsabkommen nach dem Brexit aussehen werden. Eines der Hauptargumente für den Brexit war die Wiederherstellung der Souveränität des britischen Parlaments. Seit dem Referendum ist die Regierung unablässig bemüht, das Parlament von dem Prozess auszuschließen. Sind Sie enttäuscht? Ich würde es vielleicht nicht in diesen Worten ausdrücken. Ich war lang genug in der Politik, um zu wissen, unter welchen Zwängen jede Regierung steht, insbesondere in so einem komplizierten Prozess. Es ist also unvermeidlich, dass es Spannungen zwischen Regierung und Parlament gibt. Haben die Brexiteers die Bevölkerung angelogen? Mit Sicherheit haben die BrexitAnhänger in großem Stil übertrieben, wie einfach der Austritt sein würde und welche Vorteile er bringen würde. Aber darum geht es nicht mehr. Heute muss die Regierung den Auftrag umsetzen, den sie vom Volk erhalten hat.
Sie sind der Urheber des Abänderungsabtrags, der gegen den Willen der Regierung angenommen wurde und dem Parlament eine „sinnvolle Abstimmung“über den EU-Austrittsvertrag gewährt. Was bedeutet die Novelle? Das von der Regierung vorgelegte Brexit-Gesetz erteilt umfassende Rechte, EU-Gesetze in britische Gesetze zu übertragen, um so im Moment des Ausscheidens ein Rechtsvakuum zu vermeiden. Das beruht auf der Annahme, dass wir ohne Vereinbarung oder ohne Übergangsperiode aus der EU ausscheiden. Zusätzlich trifft das Gesetz Vorkehrungen für Befugnisse, um jede Gesetzesänderung durchzuführen, die die Regierung zur Durchsetzung der Austrittsvereinbarung für erforderlich halten mag. Es ist überraschend, dass wir der Regierung die Befug- nisse geben sollen, ein Abkommen umzusetzen, von dem wir noch nicht einmal die geringste Ahnung haben. Deshalb habe ich meinen Antrag eingebracht: Nicht, um den Brexit aufzuhalten, sondern, um die Regierung zu hindern, diese Befugnisse anzuwenden, bevor wir eine Vereinbarung haben.
Hat das Parlament nun ein Veto über den Brexit-Vertrag? Ja.
Was passiert, wenn das Parlament das Abkommen ablehnt? Manche Kollegen meinen, dass wir die EU ohne Abkommen verlassen würden. Eine andere Möglichkeit ist, dass das Parlament zu der Ansicht gelangt, eine bessere Vereinbarung wäre erzielbar.
Könnte auch eine neuerliche Volksabstimmung kommen? Ja, das könnte möglich sein.
Die Regierung spricht von zwei Jahren Implementierungsphase, die EU von 21 Monaten. Es ist sicherlich nicht wünschenswert, eine endlose Übergangsphase zu haben.
Fürchten Sie, dass die gegenwärtige Unsicherheit nicht nur negativ für die Wirtschaft ist, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert? Großbritannien ist eine lebendige und etablierte Demokratie. Die Probleme deuten für mich nicht daraufhin, dass wir in der Krise sind, sondern im Gegenteil, dass unser Regierungsmodell und unser System der Gewaltentrennung sich bester Gesundheit erfreuen.
Teilen Sie die Ansicht, dass der Brexit ein großer Fehler ist? Obwohl ich nie überenthusiastisch für die EU war, war ich immer der Ansicht, dass die Mitgliedschaft in unserem besten Interesse ist.
Macht der Brexit Großbritannien zu dem, was etwa Irland gegenüber Ihrem Land ist: eine kleine Insel, die sich einem Hegemon anpassen und beugen muss? Es besteht die Gefahr, dass wir an Einfluss und Gewicht verlieren.
Es besteht sicher die Gefahr, dass wir an Einfluss und Gewicht verlieren. Dominic Grieve, Abgeordneter der Tories