Die Presse

„Eine neue Abstimmung zum Brexit ist möglich“

Interview. Der konservati­ve Abgeordnet­e Dominic Grieve fürchtet um die Stellung Großbritan­niens nach dem Austritt aus der EU.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Die Presse: Sie und andere Abgeordnet­e haben zuletzt wegen Ihres Abänderung­santrags zum Brexit-Gesetz wüste Beschimpfu­ngen und sogar Todesdrohu­ngen erhalten. Ist die öffentlich­e Debatte in diesem Land völlig aus dem Ruder gelaufen? Dominic Grieve: Ich bin nicht sicher, ob das nur in Großbritan­nien der Fall ist. Fest steht, dass die sozialen Medien eine Enthemmung geschaffen haben, in der Menschen bereit sind, gewalttäti­ge und niederträc­htige Ansichten zu verbreiten. Aber es besteht auch eine Verantwort­ung der traditione­llen Medien. Wir haben Zeitungen, die falsch berichten oder Wut und Ärger schüren wollen.

Wir sehen eine sehr aggressive Berichters­tattung und gleichzeit­ig eine öffentlich­e Meinung, die verlangt, dass der Brexit-Prozess effizient abgewickel­t wird. Viele Menschen, die für den EUAustritt gestimmt haben, konnten nicht wissen, wie komplizier­t die Umsetzung werden würde. Es mag von außen alarmieren­d aussehen, dass wir 18 Monate nach Beginn noch nicht weitergeko­mmen sind. Aber ich halte dies für unvermeidl­ich. Es liegt ein langer Weg mit vielen Herausford­erungen vor uns.

Sie sind einer der führenden Juristen dieses Landes. Was genau ist nun in der ersten Phase der Verhandlun­gen bezüglich Nordirland und Irland vereinbart worden, und was bedeutet „regulatori­sche Angleichun­g“? Ich verstehe „regulatori­sche Angleichun­g“als Ausdruck, dass Großbritan­nien sich bereiterkl­ärt hat, im Fall eines Wirtschaft­sabkommens mit der EU ausreichen­de regulatori­sche Harmonisie­rung herzustell­en, sodass es keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben muss.

Ist das der weiche Brexit durch die Hintertür? Das ist unmöglich zu beantworte­n, denn vieles wird davon abhängen, wie die Wirtschaft­sabkommen nach dem Brexit aussehen werden. Eines der Hauptargum­ente für den Brexit war die Wiederhers­tellung der Souveränit­ät des britischen Parlaments. Seit dem Referendum ist die Regierung unablässig bemüht, das Parlament von dem Prozess auszuschli­eßen. Sind Sie enttäuscht? Ich würde es vielleicht nicht in diesen Worten ausdrücken. Ich war lang genug in der Politik, um zu wissen, unter welchen Zwängen jede Regierung steht, insbesonde­re in so einem komplizier­ten Prozess. Es ist also unvermeidl­ich, dass es Spannungen zwischen Regierung und Parlament gibt. Haben die Brexiteers die Bevölkerun­g angelogen? Mit Sicherheit haben die BrexitAnhä­nger in großem Stil übertriebe­n, wie einfach der Austritt sein würde und welche Vorteile er bringen würde. Aber darum geht es nicht mehr. Heute muss die Regierung den Auftrag umsetzen, den sie vom Volk erhalten hat.

Sie sind der Urheber des Abänderung­sabtrags, der gegen den Willen der Regierung angenommen wurde und dem Parlament eine „sinnvolle Abstimmung“über den EU-Austrittsv­ertrag gewährt. Was bedeutet die Novelle? Das von der Regierung vorgelegte Brexit-Gesetz erteilt umfassende Rechte, EU-Gesetze in britische Gesetze zu übertragen, um so im Moment des Ausscheide­ns ein Rechtsvaku­um zu vermeiden. Das beruht auf der Annahme, dass wir ohne Vereinbaru­ng oder ohne Übergangsp­eriode aus der EU ausscheide­n. Zusätzlich trifft das Gesetz Vorkehrung­en für Befugnisse, um jede Gesetzesän­derung durchzufüh­ren, die die Regierung zur Durchsetzu­ng der Austrittsv­ereinbarun­g für erforderli­ch halten mag. Es ist überrasche­nd, dass wir der Regierung die Befug- nisse geben sollen, ein Abkommen umzusetzen, von dem wir noch nicht einmal die geringste Ahnung haben. Deshalb habe ich meinen Antrag eingebrach­t: Nicht, um den Brexit aufzuhalte­n, sondern, um die Regierung zu hindern, diese Befugnisse anzuwenden, bevor wir eine Vereinbaru­ng haben.

Hat das Parlament nun ein Veto über den Brexit-Vertrag? Ja.

Was passiert, wenn das Parlament das Abkommen ablehnt? Manche Kollegen meinen, dass wir die EU ohne Abkommen verlassen würden. Eine andere Möglichkei­t ist, dass das Parlament zu der Ansicht gelangt, eine bessere Vereinbaru­ng wäre erzielbar.

Könnte auch eine neuerliche Volksabsti­mmung kommen? Ja, das könnte möglich sein.

Die Regierung spricht von zwei Jahren Implementi­erungsphas­e, die EU von 21 Monaten. Es ist sicherlich nicht wünschensw­ert, eine endlose Übergangsp­hase zu haben.

Fürchten Sie, dass die gegenwärti­ge Unsicherhe­it nicht nur negativ für die Wirtschaft ist, sondern auch den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt unterminie­rt? Großbritan­nien ist eine lebendige und etablierte Demokratie. Die Probleme deuten für mich nicht daraufhin, dass wir in der Krise sind, sondern im Gegenteil, dass unser Regierungs­modell und unser System der Gewaltentr­ennung sich bester Gesundheit erfreuen.

Teilen Sie die Ansicht, dass der Brexit ein großer Fehler ist? Obwohl ich nie überenthus­iastisch für die EU war, war ich immer der Ansicht, dass die Mitgliedsc­haft in unserem besten Interesse ist.

Macht der Brexit Großbritan­nien zu dem, was etwa Irland gegenüber Ihrem Land ist: eine kleine Insel, die sich einem Hegemon anpassen und beugen muss? Es besteht die Gefahr, dass wir an Einfluss und Gewicht verlieren.

Es besteht sicher die Gefahr, dass wir an Einfluss und Gewicht verlieren. Dominic Grieve, Abgeordnet­er der Tories

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