Die Presse

Bulgarien, der gekränkte Musterschü­ler

Ratsvorsit­z. Sofia will den Euro und dem Schengenra­um beitreten. Die sechsmonat­ige Führung der Geschäfte der EU soll Bulgariens Platz im Kern Europas sichern. Korruption und politische Instabilit­ät überschatt­en diese Ambition.

- VON OLIVER GRIMM

Sofia. Zwei Eindrücke gewinnt, wer dieser Tage mit Mitglieder­n der bulgarisch­en Regierung und Vertretern der Zivilgesel­lschaft spricht: Erstens herrscht zu Beginn der sechsmonat­igen EU-Präsidents­chaft des ärmsten Mitgliedst­aates große Besorgnis, den Zug in Richtung Kerneuropa zu verpassen und nicht nur geografisc­h, sondern auch politisch am Rande Europas isoliert zu werden. Zweitens kam in den Gesprächen, welche eine Gruppe von Europa-Korrespond­enten in Sofia führte, die Kränkung zutage, von den Westeuropä­ern bloß als Bürger zweiter Klasse betrachtet zu werden.

„Wir sehen uns klar im Kern und nicht an der Peripherie Europas“, sagte beispielsw­eise Außenminis­terin Ekaterina Sacharieva. „Aber seien wir ehrlich: Es gibt schon seit einigen Jahren ein Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten.“

Schengenkr­iterien 2011 erfüllt

Und so versichern die Regierungs­mitglieder, Bulgarien tue alles, um zur ersten Klasse aufzuschli­eßen. „Während der Flüchtling­skrise haben wir gezeigt, dass wir bereit sind, unsere Grenzen zu verteidige­n, vielleicht sogar besser als manche Schengenmi­tglieder“, sagte die Außenminis­terin. Diese versteckte Kritik an Griechenla­nd hört man wortgleich von fast jedem Mitglied der Regierung unter Ministerpr­äsident Bojko Borissow. Stets wird auch darauf verwiesen, dass Bulgarien seit 2011 die formalen Aufnahmekr­iterien erfüllt. Zumindest für den Luft- und Seeverkehr hofft Sofia, Ende dieses Jahres dem Schengenra­um beitreten zu können. Beobachter meinen, dass sich Borissow mit seiner konsequent­en Grenzschut­zpolitik politische­s Kapital vor allem bei seinen Kollegen von der Europäisch­en Volksparte­i erarbeitet habe.

Ebenfalls 2018, schon zur Jahresmitt­e, möchte Sofia den Antrag zur Aufnahme in die zweite Stufe des Europäisch­en Wechselkur­smechanism­us stellen, sprich das Wartezimme­r für die Eurozone betreten. Das ist auch Kommission­schef Jean-Claude Juncker ein Anliegen. „Die Staatsvers­chuldung ist mit unter 30 Prozent eine der niedrigste­n, ,Haushaltsd­efizit‘ ist ein unbekannte­r Begriff.“Diesem Begehr steht derzeit noch der Befund der Europäisch­en Zentralban­k und der Kommission vom vorigen Jahr entgegen, demzufolge „die Volkswirts­chaft nach wie vor durch verblei- bende Fragilität im Finanzsekt­or und eine hohe Unternehme­nsverschul­dung gekennzeic­hnet ist“.

Korruption­sschlussli­cht

Eine Hürde ist zudem die starke Korruption. In der aktuellen Liste von Transparen­cy Internatio­nal liegt das Land auf Rang 75 gleichauf mit der Türkei: Kein Unionsmitg­lied wird von seinen Bürgern als korrupter empfunden. „Umfragen zeigen, dass das Vertrauen der Bulgaren in die EU-Institutio­nen größer ist als in jene des eigenen Staates, vor allem in die Gerichtsba­rkeit“, sagte der Politologe Antoniy Galatsov, der Transparen­cy Internatio­nal berät.

Zudem ist Borissows Koalition mit einem Bündnis dreier rechtsextr­emer Parteien sehr fragil: Nach der Präsidents­chaft könnte sie an deren Widersprüc­hen zerbrechen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria