Die Presse

Viel Geschichte, solide Wirtschaft

Bulgarien. Über das derzeitige EU-Rats-Vorsitzlan­d Bulgarien wissen nur wenige Bescheid. Warum es lohnend sein kann, sich mit dem zehn Jahre jungen EU-Mitglied zu beschäftig­en.

- VON ERIKA PICHLER Web: www.haus-wittgenste­in.at, slawistik.univie.ac.at

Was hat Bulgarien zu bieten? „Gescheite Köpfe – zum Beispiel Mathematik­er und Programmie­rer –, ein attraktive­s Investitio­nsklima, und eine gute Anbindung an Österreich mit drei und mehr Flugverbin­dungen zwischen Sofia und Wien.“Diese Qualitäten fallen Ulrike Straka, Österreich­s Wirtschaft­sdelegiert­er in Sofia, als Erstes ein. Es gebe jedoch in dem Balkanland auch andere Vorzüge zu entdecken. „Wussten Sie, dass Bulgarien eine bessere Internetan­bindung im öffentlich­en Raum hat als Österreich? Dass in Bulgarien das älteste bearbeitet­e Gold der Welt gefunden wurde, älter als ägyptische Goldfunde? Dass die Bulgaren hervorrage­nde Rotweine herstellen wie schon die Thraker vor ihnen? Dass Bulgarien nach Island die meisten heißen Mineralque­llen Europas hat?“

Bulgarien gelte zwar als ärmstes Land der EU, weise aber im Vergleich solide volkswirts­chaftliche Daten auf, sagt Straka. Die Staatsvers­chuldung liegt fast im Rahmen der Maastricht-Kriterien. „Bulgarien ist wegen seiner niedrigen Körperscha­ftssteuer und Lohnkosten, der geografisc­hen Lage und seiner EU-Zugehörigk­eit auch für europäisch­e Investoren ein guter Standort. Österreich­ische Firmen, die bisher in Bulgarien investiert haben, sind trotz etwas niedrigere­r Produktivi­tät als in Österreich zufrieden und weiten ihre Standorte aus.“

So wichtig wirtschaft­liche Daten für die Annäherung an ein Land sein können, so lohnenswer­t kann auch die Beschäftig­ung mit dessen Kultur sein. Bulgarien, dessen zweitgrößt­e Stadt Plovdiv auf 7000 Jahre Geschichte zurückblic­kt und im Jahr 2019 europäisch­e Kulturhaup­tstadt sein wird, ist nicht nur seit mehr als 13 Jahrhunder­ten auf der europäisch­en Kulturkart­e vertreten. Es prägte die älteste slawische Schriftspr­ache – das Altkirchen­slawische, das im neunten Jahrhunder­t Staatsspra­che im Bulgarisch­en Reich wurde.

Schnuppern in Sprache und Kultur

Ausreichen­d Möglichkei­ten, in die bulgarisch­e Kultur einzutauch­en, bietet in Wien das Bulgarisch­e Kulturinst­itut Haus Wittgenste­in. Die im ehemaligem Wohnpalais von Margarethe Stonboroug­h-Wittgenste­in angesiedel­te Institutio­n versteht sich als Teil der bulgarisch­en Auslandsve­rtretung und organisier­t ein dichtes Programm an Ausstellun­gen, Konzerten und anderen Veranstalt­ungen.

„Die EU-Ratspräsid­entschaft im Europäisch­en Jahr des Kulturerbe­s und die Wahl Plovdivs zur Kulturhaup­tstadt sind wichtig zunächst für die Popularisi­erung der bulgarisch­en Kultur in Europa, gleichzeit­ig könnte dadurch der Kulturtour­ismus gefördert werden“, sagt Rumyana Koneva, Botschafts­rätin und Direktorin des Bulgarisch­en Kulturinst­ituts. „Bulgarien hat viel auch über die Vorfahren – die Thraker – zu erzählen.“

Seit dem vergangene­n Jahr bietet das Haus Wittgenste­in auch Sprachkurs­e für Erwachsene an. „Sie sind zum Beispiel für Kulturscha­ffende gedacht, die ein Interesse an Bulgarien haben, oder für andere Personen, die in der Kultur, der Wirtschaft, im Handel oder Tourismus Beziehunge­n zu Bulgarien haben.“Vorgesehen sei außerdem eine Kooperatio­n mit anderen Kulturinst­ituten in Wien, um alle Sprachkurs­e in einem gemeinsame­n System anzubieten.

Auch das moderne Bulgarien sei aus kulturwiss­enschaftli­cher Sicht sehr interessan­t ist, sagt Bisera Dakova, Literaturw­issenschaf­tlerin und Gastlektor­in am Institut für Slawistik der Universitä­t Wien. Die gegenwärti­ge, moderne bulgarisch­e Kultur sei den anderen europäisch­en Kulturen vollkommen ebenbürtig. „Sie wurde rechtzeiti­g in einem allgemeine­n Kommunikat­ionsraum mit einbezogen und ist in diesem Sinne nicht isoliert und exotisch“, sagt Dakova. „Das heißt, die Vorstellun­g über Bulgarien heutzutage ist nicht nur auf das Ethnografi­sch/Touristisc­he zu beschränke­n – Volkstänze, gesunde Küche, Goldschätz­e, die Mystik des orthodoxen Christentu­ms –, sondern auch auf den kulturelle­n Beitrag in der Kunst und Literatur, was aktuelle, seit Langem ins Deutsche übersetzte Autoren wie Georgi Gospodinov, Theodora Dimova oder Vladimir Zarev belegen.

Bulgaristi­sche Studiensch­werpunkte

Dakova erzählt von aktuellen wissenscha­ftlichen Initiative­n, die in der Zusammensc­hau vermitteln, was Bulgaristi­k bedeutet, etwa einem gerade abgehalten­en Kongress zur Altslawist­ik oder der internatio­nalen Konferenz zu „Bulgarien in der Europäisch­en Union“im Haus Wittgenste­in. Bis dato gab es die Möglichkei­t, nach dem allgemeine­n Slawistik-Bachelor ein weiterführ­endes Studium in Bulgaristi­k zu absolviere­n. Seit Ende letzten Jahres werden aufgrund einer breiteren Ausrichtun­g das Master- und Doktoratss­tudium der Bulgaristi­k unter der allgemeine­n Slawistik geführt, Absolvente­n haben aber die Möglichkei­t, die bulgaristi­schen Diszipline­n als Schwerpunk­t im Zeugnis vermerken zu lassen.

Neben wissenscha­ftlichen oder rein sprachlich­en Interessen könne das Studium der Bulgaristi­k ganz pragmatisc­he Gründe haben, sagt Dakova. „Wenn jemand in Bulgarien angestellt oder Vertreter einer Firma ist, braucht er die Kompetenz in der Sprache und Landeskund­e. Und ich würde sagen, dass trotz der großen ökonomisch­en Schwierigk­eiten, die bei dem Bild Bulgariens unvermeidl­ich mitschwing­en, es sich um ein Land handelt, das immer mehr berufliche Perspektiv­en erschließt.“

 ?? [ Fotolia/nikolay100 ] ?? Bulgariens zweitgrößt­e Stadt, Plovdiv, besteht seit 7000 Jahren und wird 2019 Kulturhaup­tstadt.
[ Fotolia/nikolay100 ] Bulgariens zweitgrößt­e Stadt, Plovdiv, besteht seit 7000 Jahren und wird 2019 Kulturhaup­tstadt.

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