KLAUS THER
Jahrelang ist der Kanadier Carl Campeau an den gefährlichsten Schauplätzen der Welt für die Vereinten Nationen im Einsatz. Bis er in Syrien verschleppt wird. Von der UNO im Stich gelassen, erlebt er acht Monate des Horrors in der Hand der Terrorgruppe al-
Geboren 1959 in Villach. Dr. phil. Studienaufenthalt in Madrid und Istanbul. Seit 2004 Mitarbeiter der Hauptabteilung Religion im ORF-Fernsehen.
Es ist Sonntag, der 17. Februar 2013. Kurz nach neun Uhr morgens steige ich in Wien in meinen Wagen. Über Prag führt die Reise nach Berlin. Ich werde meine Frau von dort an die Ostsee bringen, wo sie an der Oper in Stralsund das Nettchen in Alexander Zemlinskys „Kleider machen Leute“singt. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Zur selben Stunde, da ich Richtung Weinviertel und durch Böhmens verschneite Flur steuere, ist auch er in Syrien ins Auto gestiegen: Er, das ist mein Freund Carl Campeau, „UN Legal Adviser“, Jurist der Vereinten Nationen, im Rahmen der UNDOF („United Nations Disengagement Observer Force“) tätig seit rund drei Jahren auf den Golanhöhen, die Israel und Syrien trennen.
An jenem 17. Februar will Carl nach Damaskus fahren, um sich nach einer Knieoperation behandeln zu lassen und mit einem für die UNO arbeitenden örtlichen Mitarbeiter zusammentreffen. Doch der in Montreal geborene, damals 48-jährige Kanadier wird es nicht bis Damaskus schaffen. Was ihm an diesem Tag widerfährt, sollte ich erst zehn Tage danach, am 27. Februar, in Wien durch eine Freundin erfahren: „Carl ist offenbar in Damaskus entführt worden!“, schallte mir am Telefon ihre Stimme entgegen. Und: „Die Medien müssen draußen bleiben!“
Ihr Anruf erreicht mich auf dem Heimweg von der Arbeit – dem ORF-Zentrum am Küniglberg – nach Hause, ich kehre um, fahre zurück und finde in den Agenturen die Bestätigung. Eine nichts- und doch vielsagende Nachricht: „Canadian UN adviser missing in Syria“. Die Medien müssen draußen bleiben? Damit ist es nun vorbei. Das volle Ausmaß dessen, was Carl Campeau an jenem Tag widerfahren ist, schildert er mir später persönlich. Am eindrucksvollsten hat er es in seinem jetzt erschienenen Buch beschrieben: „Meine Seele kriegt ihr nie. Als Geisel verschleppt, gefoltert und zum Islam gezwungen“(Herder Verlag).
Im Kapitel „Dunkle Zeichen“listet Campeau jene Warnungen auf, die er im Vorfeld erhielt: ein Kompendium übergangener Hinweise. Da waren die telefonischen Warnungen seiner Frau, einer Syrerin (die er vorher außer Landes in Sicherheit gebracht hatte); dann die aus Friedenszeiten herrührende Lässigkeit der UNO (die ihre Schutzfunktion als Arbeitgeber unzureichend wahrnimmt) sowie der immer heftiger werdende Krieg rund um das UNDOFCamp „Faouar“zwischen Dschihadisten und der syrischen Armee; und – fast wie ein Wink des Schicksals – ein Film, den Carl am Vorabend gesehen hat: Vor seiner eigenen Entführung schaut er sich mit einem Kollegen „Argo“an – der Film handelt von der Geiselnahme 1979 in der US-Botschaft in Teheran.
Die UNO zahlt kein Lösegeld
Da keines der gepanzerten Fahrzeuge zur Verfügung steht, nimmt Carl Campeau an jenem 17. Februar gegen neun Uhr vormittags ein leichtes Fahrzeug, legt die kugelsichere Weste an und fährt los. Dutzende gefährliche Situationen hat er durchlebt, in Liberia, in Bosnien, im Kosovo. Warum sollte es diesmal nicht gut gehen? Vorbei an einem Checkpoint der Armee Bashar al-Assads – warum wirkt der Soldat so gestresst?, denkt er –, versperrt plötzlich ein Wagen die Weiterfahrt, Männer mit dicht wuchernden Bärten richten ihre Maschinenpistolen auf den UNO-Jeep. Zwei Männer zwingen Carl Campeau, auf dem Rücksitz seines Wagens Platz zu nehmen, dann geht es schnell: Schläge in den Nacken zwingen ihn nach unten, er soll nicht sehen, wohin ihn die Entführer bringen. Im Villenvorort Khan Al-Shih – aus dem sich die meisten Wohlhabenden schon vor den Rebellen aus dem Staub gemacht haben – endet dieser Tag.
Die Entführer, das wird schnell klar, sind Kämpfer der al-Nusra-Front, einer mehrere Tausend Militante umfassenden, mit al-Qaida verbündeten Dschihadistengruppe. International zusammengewürfelt: Jordanier, Kurden, Saudis, Tschetschenen und Syrer. Sie finden schnell heraus, dass Carl Campeau mit einer Syrerin verheiratet ist, das hat einen Vorteil: Al-Nusra hat keine Sprachprobleme für die direkte Übermittlung der Lösegeldforderung. Sieben Millionen US-Dollar, sonst droht Carl Campeau der Tod. Dass sie keine Bluffer sind, machen sie bald klar, als sie neben Carl Campeau einen entführten syrischen Polizisten – „Schergen Assads müssen sterben“– hinrichten. Das Flehen um Gnade des Mannes wird Carl zeitlebens nicht vergessen, erzählt er in seinem Buch. In dem kleinen Zimmer in einer Villa, die einem syrischen Arzt gehört, der in Deutsch- land lebt, ziehen sich die Tage hin. Gefesselt wartet der Gefangene, begleitet von schlechtem Essen, von Schmutz, Hitze. Manchmal gibt es keinen Strom. Lähmend ist die ständige Isolation und Ungewissheit, sie wird nur von Einschlägen der Artilleriegeschosse rund um die Villa begleitet. In quälender Langeweile verbringt Carl die Tage, ein junger Mann mit dem Kampfnamen Abu Adam bringt ihm von Zeit zu Zeit etwas zu essen. Diesem 23-jährigen Syrier – sein wirklicher Name ist Soliman al-S. – sollte er später wieder begegnen, unter vollkommen anderen Umständen allerdings.
Während Carl in Gefangenschaft um mehr als zehn Kilo abmagert, stocken die Verhandlungen zwischen al-Nusra und der UNO. Diese weigert sich, Lösegeld zu zahlen. „The UN don’t pay ransom. The host countries are responsible!“Doch auch Carls Land – Kanada – lehnt die Lösegeldforderung ab. „Es kommt offenbar auf die Person an, die entführt wird“, meint er später. 2009 erhielten die Regierungen von Mali und Burkina Faso eine außergewöhnlich großzügige Entwicklungshilfezahlung. Indizien deuten darauf hin, dass darin auch das Lösegeld für den von der Terroristengruppe „al-Qaida im islamischen Maghreb“entführten kanadischen Diplomaten Robert Fowler verdeckt enthalten war. Der „Fall Campeau“entwickelt sich zum Nervenkrieg, zu einer PingPong-Diplomatie, bei der er selbst auf der Strecke bleibt. Es fließt kein Lösegeld. Auch Carls Eltern sind involviert, bieten lächerliche 11.000 Dollar.
In dieser Situation werden die Entführer immer ungeduldiger. Carl Campeau wünscht sich manchmal ein „schnelles Ende“, so sehr setzt ihm die Ungewissheit zu. „Wir schlagen dir deinen Kopf ab und spielen damit Fußball“, höhnt einer der Entführer. Der Tag der Hinrichtung in oranger „Guantanamo-Kluft“könnte nahen – doch ein Schlupfloch bleibt. „Ich musste ihnen etwas bieten, das wurde mir klar“, erzählt er mir. Immer wieder deuten die Entführer an, er könnte zum Islam übertreten, um dann unter neuem Namen mit al-Nusra gegen Bahar al-Assad zu kämpfen. Einen „muslimischen Bruder“könnten sie nicht hinrichten, deuten sie an. Diese „spirituellen Belagerung“– wie Carl sie in seinem Buch beschreibt – ist eine weitere Front des Kampfes um seine Identität: „Alles, was ihnen heilig war, war mir unheilig, und alles, was mit heilig war, war ihnen unheilig.“In dieser Ausnahmesituation wird der Atheist Carl selbst zum spirituellen Menschen. Er ruft den Erzengel Michael an, ihn zu erretten. Auch hilft ihm ein „imaginierter“, für ihn fast realer „schwarzer Panther“, stets sprungbereit, um weiter durchzuhalten. Mit spirituellen Mitteln widersteht er der „spirituellen Belagerung“.
Während seine Frau von außerhalb Syriens die Entführer telefonisch beschwichtigt, weiß ich nur, dass Carl entführt bleibt. Wochen- und monatelang: keine Neuigkeiten in den Medien. Carl bleibt vermisst. Was wäre in dieser Lage zu tun? Ist sein Land – Kanada – aktiv? Tun seine Angehörigen genug? Ein Gefühl der Ohnmacht macht sich breit. Acht Monate Geiselhaft sind inzwischen im Villenviertel von Khan Al-Shih vor Damaskus ins Land gezogen. Was ich nicht weiß: Die Front lieg nur etwa einen Kilometer von Khan Al-Shih entfernt. Das Jahr 2013 ist für die syrische Armee kein gutes Jahr, erst nach dem September 2015 – der Intervention der Russen – wird sie sich trotz großer Verluste erfangen und an Kampfkraft und Disziplin gewinnen. Es naht der 16. Oktober 2013.
Carl ist inzwischen zum Islam übergetreten, eine Zwangskonversion, die auf ihm lastet. Nun ist er für seine Peiniger ein „Bruder“, man gibt ihm besseres Essen, er wird nicht mehr gefesselt. Es naht das islamische Opferfest „Eid al-Adha“, alles dreht sich um den Propheten Ibrahim, Abraham. Carl betet das Gebet des Reisenden „Salat As-Safar“, eine „Reise“hat auch er geplant, im Geiste hat er unzählige Male seine Flucht durchgespielt. Am 16. Oktober steht seine Zelle offen, die Entführer haben ihn unbewacht gelassen. Sie trainieren draußen für den Kampf. Waffen liegen herum, doch Carl entscheidet sich, keine zu nehmen: Falls sie ihn finden, ist es egal, ob er unbewaffnet oder bewaffnet ist – er hätte keine Chance. Über ein Loch in der Mauer, das die Dschihadisten selbst geschlagen haben, flüchtet er. Nach einem endlosen Marsch trifft er auf eine Artilleriestellung der syrischen Armee. Endlich keine IS-Fahnen, keine al-NusraEmbleme, die Männer hier haben keine Bärte – und glücklicherweise schießen sie auf den Fremden nicht.
Flucht durch ein Loch in der Mauer
Wie absurd. Über den Stacheldraht ist Carl in die Stellung der syrischen Armee eingedrungen, ohne erschossen zu werden. Ein Offizier namens George nimmt sich seiner an. Bald darauf ist Carl in Damaskus, die Zeit vergeht wie im Flug: Geheimdienstzentrum, dann in ein Hotel, schon bald wird er der UNO übergeben. Er ruft seine Frau an, sagt ihr, dass er frei ist.
Am 17. Oktober 2013 abends gebe ich wie fast jeden Tag ins Suchfeld von Google „Carl Campeau“ein: Ein CBS-Bericht zeigt Carl im syrischen Fernsehen. Abgemagert und gezeichnet, aber auch ein Leuchten – den „schwarzen Panther“, denke ich heute – im Gesicht. Am 26. Oktober ist er in Wien. Er erzählt und erzählt. „Wenn die Rebellenfraktionen an die Macht kommen“, so seine Überzeugung, „ist die Chance groß, dass sie Bedingungen schaffen, die viel schlechter sind als die jetzt herrschenden. Die Rebellengruppen sind keine nachhaltige Alternative für Syrien.“
Anfang 2016 nehmen die Behörden in Baden-Württemberg einen anerkannten Flüchtling aus Syrien fest: Soliman al-S. Carl muss nach Stuttgart-Stammheim reisen und identifiziert ihn als seinen Bewacher: Abu Adam. Der wurde vom Terroristen zum Flüchtling und kam aus Libyen über das Mittelmeer nach Italien und Deutschland. Und erhielt Asyl. Es kommt zum Prozess: Noch einmal muss Carl die schlimme Zeit vor Gericht aufrollen. Abu Adam bestreitet, wird allerdings durch Beweise auf seinem Mobiltelefon und auf Facebook überführt. Vergangenen September wird das Urteil gefällt: drei Jahre und sechs Monate Haft. Der Staatsanwalt hat dagegen berufen, verlangt eine höhere Strafe. Bisher gilt Abu Adam nur als „Helfer“, nicht „aktiver Mittäter“der Entführung. Carl meint, im Gefängnis würden Islamisten zusätzlich radikalisiert . . .
Bemerkenswert: Carl ist trotz Zwangskonversion kein Islam-Hasser geworden. Er hat gewissermaßen seinen Tod überlebt. Ich bin als Freund befangen, kann keine Rezension über sein Buch schreiben. Nur so viel: Carl Campeaus Buch ist kein reißerischer „Real-Thriller“, sondern die spannend-nüchterne Chronologie einer Entführung.