FRIEDERIKE GÖSWEINER
Der Soldat Veit Kolbe versucht, den Weltkrieg heil zu überstehen. Vielschichtig, gewagt, aber nicht ganz überzeugend: Arno Geigers Roman „Unter der Drachenwand“ist Kriegschronik, Lovestory und Quasi-Memoire in einem.
Geboren 1980 in Rum, Tirol. Dr. phil. Projektmitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck. Bei Droschl: der Roman „Traurige Freiheit“(Österreichischer Buchpreis 2016 in der Kategorie Debüt).
Fast scheint es so, als seien Arno Geigers letzte Bücher eine Art Vorbereitung für seinen neuen großen Roman gewesen: „Unter der Drachenwand“, die neunte Prosaveröffentlichung, greift viele der Themen, die den Autor seit Jahren umtreiben, auf und bindet sie in eins. Der 480-seitige Roman kann als Kriegschronik gelesen werden, er zeichnet das Porträt eines jungen Soldaten und dessen innere „Emanzipation“von der NS-Ideologie, enthält eine Liebesgeschichte im Krieg und ist auch so etwas wie ein Quasimemoire – thematische Verbindungen zu „Es geht uns gut“(2004), „Alles über Sally“(2010), „Der alte König in seinem Exil“(2011) und „Selbstporträt mit Flusspferd“(2015) liegen auf der Hand.
„Unter der Drachenwand“spielt 1944, als Österreich „Ostmark“war; Hauptfigur ist ein 24-jähriger Soldat, der von der Schulbank weg an die Front beordert wurde und nach fünf Jahren Krieg als Verwundeter auf Genesungsurlaub zurückdarf, wo er sich in seine – verheiratete – Quartiersnachbarin verliebt, die gerade Mutter geworden ist. Das alles ist „based on a true story“: Veit Kolbe, so der Name des Romanhelden, ist am 3. Juni 2004 gestorben, wie es in den „Nachbemerkungen“am Ende des Buches heißt, seine Witwe, Margot, ist aktuell 95.
Die Erzählung setzt ein, als Kolbe im Lazarett liegt, wartet, dass seine Wunden heilen mögen, und zugleich hofft, dies möge nicht zu schnell geschehen, weil er es nicht eilig hat, zurück an die Front zu kommen. Nach seiner Entlassung geht Kolbe nach Mondsee, wo sein Onkel Postenkommandant ist. Das Jahr, das er dort verbringt, ist das vorletzte Kriegsjahr, geprägt von Mangel, Not und Angst. Zugleich ist es für Kolbe ein Jahr der Begegnung, der Entwicklung. Ohne Pervitin – heute als Crystal Meth, damals als „Panzerschokolade“bekannt – kommt er nicht durch, und bis zum Schluss, als er im Winter 44/45 doch noch zurück an die Front muss, wird ihn der Krieg auch innerlich nicht loslassen und bis in seine Träume verfolgen.
Das Jahr in Mondsee aber gibt ihm die Ahnung eines friedlichen, glücklichen Lebens: durch die Freundschaft zu seinem regimekritischen Nachbarn, dem „Brasilianer“, der vom Exil in Südamerika träumt, und die langsam wachsende Liebe zur Darmstädterin Margot, deren Mann an der Front steht, und ihrem Säugling, Lilo. Seinen Onkel dagegen beginnt Kolbe – „als gänzlicher Opportunist das größte Arschloch von allen“– zusehends zu verachten und bedauert dessen spätere Tötung auch nicht. Unterbrochen wird die Hauptnarration immer wieder durch Briefe von Randfiguren der Erzählung, bei denen es sich, wie man in den „Nachbemerkungen“erfährt, ebenso um (einst) real existierende Personen handelt.
Diese Briefe dienen ähnlich der Mauerschau im antiken Drama der Erweiterung des Erzählradius. Im Zeitraffer verhandelt werden im Roman so auch ein jüdisches Schicksal, der Liebeskummer eines Flakhelfers und das Leben im zerbombten Darmstadt. Zugleich wirkt das Ganze aufgrund der geringen Verknüpftheit dieser „Satellitenerzählungen“mit der Hauptnarration disparat und weniger schlüssig und überzeugend gebaut als „Es geht uns gut“, mit dem Geiger 2004 nicht nur einen gelungenen Familienroman, sondern auch eine hervorragend komponierte Österreich-Chronik geschrieben hat. Obwohl das Buch zu Kriegszeiten spielt und Tod und Gewalt alltäglich sind, klingt auch dieser Roman Geigers spektakulär unspektakulär. Geiger ist Meister des Großen im Kleinen. In „Unter der Drachenwand“vollzieht sich die große, abstrakte Politik sehr konkret in den kleinen, alltäglichen Handlungen und Gesprächen. Die Erzählung setzt sich aus einer Vielzahl präzis geschilderter Alltagsbeobachtungen zusammen, in denen Geschichte lebendig wird, erlebbar durch die Figuren und deren Innenwelt, deren psychologische Entwicklung, um die es Geiger auch im neuen Roman vor allem geht.
Um diese Entwicklung nachzuzeichnen, setzt Geiger stets auf größtmögliche Figurennähe, diesmal ganz besonders, denn erzählt wird der Roman überwiegend in der Ich-Perspektive des Stabsgefreiten Veit Kolbes. Geiger leiht damit also einem realen, inzwischen verstorbenen Wehrmachtssoldaten seine Stimme. Inwiefern oder wie stark die Narration auf Tagebuchaufzeichnungen und Erzählungen Kolbes und seiner Witwe basieren oder nicht, wird in den „Nachbemerkungen“aber nicht erläutert, sodass insgesamt das Verhältnis zwischen der faktischen Biografie Kolbes und der Fiktion des Romans – anders als in „Der alte König in seinem Exil“, in dem die (auto-) biografische Dimension der Erzählung mit- thematisiert wird – völlig ungeklärt bleibt. Dabei zeigt sich im Roman selbst exemplarisch, wie problematisch das Verhältnis von Fakten und Fiktion doch ist. Die Tötung des Onkels blieb in Mondsee faktisch ungeklärt. Im Roman wird der Täter aber namentlich genannt, und auch die Tat wird geschildert – obwohl sie längst verjährt und der Täter inzwischen tot ist. So outet der Roman damit doch – wenn auch lediglich fiktional – eine reale Person nach deren Ableben als Mörder beziehungsweise Totschläger.
Ein reflektierterer, transparenterer Umgang mit Fakten in Fiktion verträgt sich freilich schlecht mit größtmöglicher Unmittelbarkeit, um die es Geiger geht. Eine ganz und gar „echte“, authentische Unmittelbarkeit zu einem jungen Mann 1944 herstellen zu wollen, wie die Ich-Perspektive das versucht, ist gleichzeitig aber ein Vorhaben, das ohnehin kaum je ganz gelingen kann.
So sind es hier weniger gelegentliche sprachliche Wendungen („es sei zum Kotzen“, „Wahnsinnswelt“), von denen man fragen kann, ob sie in der Erzählung eines 1944 24-Jährigen vorkommen mögen, die irritieren, als vielmehr die generelle Unklarheit darüber, mit welcher Distanz das Ich, der inzwischen ja eigentlich tote Veit Kolbe in Geigers Worten, hier zu den Lesenden spricht. Das Präteritum als Erzählzeit zeigt jedenfalls eine zeitliche Distanz an, und auch die erstaunliche Selbstreflektiertheit, die sich immer wieder in Kolbes Gedankenfluss offenbart, konterkariert die Unmittelbarkeit der Schilderung, sodass die Erzählung zuweilen allzu „weich“wirkt, sehr „rund“und glatt.
Und so nimmt sich die Narration durch ihre Anlage selbst einiges von der Strahlkraft, die Thema und Ausführung zweifellos zu entfalten vermögen. Was „Unter der Drachenwand“dennoch auszeichnet, ist die eindringliche Schilderung psychologischer Prozesse entlang scheinbar völlig unspektakulärer, minutiös beschriebener Alltagsbeobachtungen, in denen sich die verheerende Politik einer Epoche im unmittelbaren Erleben, in den Worten und Taten der „kleinen Leute“klar und deutlich widerspiegelt. „Unter der Drachenwand“ist ein relevantes Buch über eine Zeit, an die sich Österreich gerade dieser Tage wieder erinnern sollte.