EVELYNE POLT-HEINZL
Ilse Tielsch erzählt vom Verlust des wechselseitigen Respekts von Deutschen und Tschechen.
Geboren 1960 in Braunau. Dr. phil. Mitarbeiterin der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Im Sonderzahl Verlag: „Ringstraßenzeit und Wiener Moderne“. 2017 Staatspreis für Literaturkritik.
Die Geschichte, die Elfi Zimmermann, neun Jahre, keck und seit Kurzem stolze Besitzerin eines Fahrrads, in Ilse Tielschs Roman „Das letzte Jahr“erzählt, beginnt wie ein unbeschwertes Jugendbuch. Das Mädchen flitzt durch die mährische Kleinstadt und erkundet die Umgebung, treibt sich mit Freundinnen im Schwimmbad herum, schwankt bezüglich ihrer Berufswahl zwischen Zirkusartistin und Trapperin, was sie den Eltern lieber nicht erzählt, auch wenn sie um deren prinzipielles Wohlwollen weiß und sich darin geborgen fühlt.
Doch Ilse Tielsch ist eine raffinierte Erzählerin. Die 1929 in Mähren geborene Autorin hat mit der Flucht ihrer Familie nach der Befreiung von den Nationalsozialisten 1945 ein Lebensthema. Der schmale Roman erschien zuerst 2006 und bildet eine Art Nachschrift zu ihrer Romantrilogie „Die Ahnenpyramide“, „Heimatsuchen“und „Die Früchte der Tränen“. Die Bände erschienen in den 1980er-Jahren und unternehmen eine Spurensuche nach den abgeschnittenen Wurzeln ebenso wie eine Befragung der trügerischen Seiten der Erinnerung, auch was das scheinbar harmonische Zusammenleben der Deutschen und Tschechen vor dem Erstarken der Sudetendeutschen Einheitsbewegung des späteren Gauleiters Konrad Henlein betrifft. Als einzige Tochter einer deutschen Arztfamilie mit tschechischen Dienstboten wuchs sie zweifellos in einem privilegierten, von den Folgen der Wirtschaftskrise weniger betroffenen Milieu auf.
Dieses Wissen der Erwachsenen genauso wie jenes um die nachfolgenden Ereignisse schreibt die Autorin in Elfis Erlebnisbericht hinein. Es kommt aus der Perspektive des Danach, wenn Elfi bei Beginn der Sommerferien denkt, dass es die (tschechischen) Bauernkinder nicht so gut haben, weil sie viel arbeiten müssen, deshalb in der Schule nicht so gut sind und in den hinteren Bankreihen sitzen müssen. Und hartnäckig erwähnt sie die Nationalität aller Personen, stets mit dem Nachsatz, dass das aber keine Rolle spielt. Bisher, denn „jetzt“, so sagt ihr als Erste die alte Köchin Josefka, sei „alles vorbei. Ich bin Tschechin, und du bist ein deutsches Kind, das ist jetzt ein großer Unterschied.“
Wenn es einmal gesagt worden ist
Elfi versteht das nicht und versucht vergeblich, das veränderte Verhalten der Erwachsenen zu deuten. Warum ist es nicht mehr so, dass sich der tschechische Herr X und der deutsche Herr Y aus Respekt in der Landessprache des jeweils anderen grüßen? Warum verschwindet ihre jüdische Freundin Lilli, die schon bisher bei den schönen kirchlichen Umzügen nicht mitmachen durfte, so wie jetzt Elfi ihrerseits von den deutschen Turnerfesten ausgeschlossen ist, weil ihr Vater eine Teilnahme verbietet? Weshalb sind ihre Eltern so unwirsch und gehen ständig mit finsteren Gesichtern herum? Und überall schnappt sie Unverständliches und Ungeheuerliches auf, etwa dass im jüdischen Mazzes Christenblut sei. Obwohl die Mutter das schroff als Blödsinn zurückweist, ist es, wie Elfi sagt, „gar nicht so leicht, so etwas nicht mehr zu denken, wenn es einmal gesagt worden ist“.
Im naiven Blick des Mädchens wird schon für das Jahr 1938 deutlich, dass die 1945 dann als Kollektiv vertriebenen Deutschen, wie die Bevölkerung Österreichs, eine ideologisch heterogene Gruppe sind: überzeugte Nationalsozialisten, Profiteure, Mitläufer und Gegner, die wohl – wie hierzulande – in der Minderheit waren.