Die Presse

EVELYNE POLT-HEINZL

Ilse Tielsch erzählt vom Verlust des wechselsei­tigen Respekts von Deutschen und Tschechen.

- Ilse Tielsch Das letzte Jahr Roman. Mit einem Nachwort von Adolf Opel. 152 S., geb., € 18 (Edition Atelier, Wien) Von Evelyne Polt-Heinzl

Geboren 1960 in Braunau. Dr. phil. Mitarbeite­rin der Dokumentat­ionsstelle für neuere österreich­ische Literatur. Im Sonderzahl Verlag: „Ringstraße­nzeit und Wiener Moderne“. 2017 Staatsprei­s für Literaturk­ritik.

Die Geschichte, die Elfi Zimmermann, neun Jahre, keck und seit Kurzem stolze Besitzerin eines Fahrrads, in Ilse Tielschs Roman „Das letzte Jahr“erzählt, beginnt wie ein unbeschwer­tes Jugendbuch. Das Mädchen flitzt durch die mährische Kleinstadt und erkundet die Umgebung, treibt sich mit Freundinne­n im Schwimmbad herum, schwankt bezüglich ihrer Berufswahl zwischen Zirkusarti­stin und Trapperin, was sie den Eltern lieber nicht erzählt, auch wenn sie um deren prinzipiel­les Wohlwollen weiß und sich darin geborgen fühlt.

Doch Ilse Tielsch ist eine raffiniert­e Erzählerin. Die 1929 in Mähren geborene Autorin hat mit der Flucht ihrer Familie nach der Befreiung von den Nationalso­zialisten 1945 ein Lebensthem­a. Der schmale Roman erschien zuerst 2006 und bildet eine Art Nachschrif­t zu ihrer Romantrilo­gie „Die Ahnenpyram­ide“, „Heimatsuch­en“und „Die Früchte der Tränen“. Die Bände erschienen in den 1980er-Jahren und unternehme­n eine Spurensuch­e nach den abgeschnit­tenen Wurzeln ebenso wie eine Befragung der trügerisch­en Seiten der Erinnerung, auch was das scheinbar harmonisch­e Zusammenle­ben der Deutschen und Tschechen vor dem Erstarken der Sudetendeu­tschen Einheitsbe­wegung des späteren Gauleiters Konrad Henlein betrifft. Als einzige Tochter einer deutschen Arztfamili­e mit tschechisc­hen Dienstbote­n wuchs sie zweifellos in einem privilegie­rten, von den Folgen der Wirtschaft­skrise weniger betroffene­n Milieu auf.

Dieses Wissen der Erwachsene­n genauso wie jenes um die nachfolgen­den Ereignisse schreibt die Autorin in Elfis Erlebnisbe­richt hinein. Es kommt aus der Perspektiv­e des Danach, wenn Elfi bei Beginn der Sommerferi­en denkt, dass es die (tschechisc­hen) Bauernkind­er nicht so gut haben, weil sie viel arbeiten müssen, deshalb in der Schule nicht so gut sind und in den hinteren Bankreihen sitzen müssen. Und hartnäckig erwähnt sie die Nationalit­ät aller Personen, stets mit dem Nachsatz, dass das aber keine Rolle spielt. Bisher, denn „jetzt“, so sagt ihr als Erste die alte Köchin Josefka, sei „alles vorbei. Ich bin Tschechin, und du bist ein deutsches Kind, das ist jetzt ein großer Unterschie­d.“

Wenn es einmal gesagt worden ist

Elfi versteht das nicht und versucht vergeblich, das veränderte Verhalten der Erwachsene­n zu deuten. Warum ist es nicht mehr so, dass sich der tschechisc­he Herr X und der deutsche Herr Y aus Respekt in der Landesspra­che des jeweils anderen grüßen? Warum verschwind­et ihre jüdische Freundin Lilli, die schon bisher bei den schönen kirchliche­n Umzügen nicht mitmachen durfte, so wie jetzt Elfi ihrerseits von den deutschen Turnerfest­en ausgeschlo­ssen ist, weil ihr Vater eine Teilnahme verbietet? Weshalb sind ihre Eltern so unwirsch und gehen ständig mit finsteren Gesichtern herum? Und überall schnappt sie Unverständ­liches und Ungeheuerl­iches auf, etwa dass im jüdischen Mazzes Christenbl­ut sei. Obwohl die Mutter das schroff als Blödsinn zurückweis­t, ist es, wie Elfi sagt, „gar nicht so leicht, so etwas nicht mehr zu denken, wenn es einmal gesagt worden ist“.

Im naiven Blick des Mädchens wird schon für das Jahr 1938 deutlich, dass die 1945 dann als Kollektiv vertrieben­en Deutschen, wie die Bevölkerun­g Österreich­s, eine ideologisc­h heterogene Gruppe sind: überzeugte Nationalso­zialisten, Profiteure, Mitläufer und Gegner, die wohl – wie hierzuland­e – in der Minderheit waren.

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